Kai Kistenbruegger

Schattenseiten


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      „Soeben hast du noch behauptet, das würde alles dir gehören“, warf ich spitzfindig ein. „Pass auf. Ich schlage dir einen Deal vor: Du beantwortest meine Fragen, und ich werde im Gegenzug vergessen, was ich in deiner Tasche gefunden habe. Einverstanden?“

      „Ja, JA!“, wimmerte Ferdi, vermutlich auch, weil ich den Druck auf seinen linken Arm erhöhte.

      „Gut“, murmelte ich besänftigt. „Ich suche Tommy; weißt du, wo er ist?”

      „Tommy?“, fragte Ferdi und versuchte, möglichst unwissend zu klingen, was in seiner misslichen Lage nur bedingt gelang.

      „Du wirst doch noch deinen besten Freund kennen, oder?” Ich wechselte die Strategie und versuchte es auf die sanfte Tour. „Ich fürchte, er steckt in üblen Schwierigkeiten. Ich kann ihm helfen“, bot ich an. „Ich muss nur wissen, wo er steckt.“

      Ich bezweifelte, dass Ferdi mir meine geheuchelten Worte tatsächlich abnahm, aber wahrscheinlich halfen sie ihm, sein Gewissen zu beruhigen. Jedenfalls fing er plötzlich an zu plaudern, schnell und hastig wie ein Wasserfall. „Ich habe Tommy schon lange nicht mehr gesehen“, brabbelte Ferdi erstickt in den Asphalt. „Er nimmt an einem Resozialisierungsprogramm teil. Er hat eine Wohnung gestellt bekommen, und einen Sozialarbeiter, der ihm unter die Arme greifen soll.“

      „Ach ja?“, fragte ich ehrlich verblüfft. Es war selten, dass einer unserer Spezis tatsächlich den Absprung versuchte. Noch seltener war es allerdings, dass sie es auch schafften. Gerade bei Thomas Becher hätte ich nicht damit gerechnet.

      „Weißt du auch wo?“

      „Ja! Irgendwo in Bilk!“

      Ich stand auf und ließ von Ferdi ab. Lässig klopfte ich mir den Staub von der Jacke.

      Ferdi rollte sich wimmernd auf den Rücken und rieb seinen Arm.

      „Danke, warum nicht gleich so“, sagte ich freundlich und nickte Ferdis Minigang zum Abschied zu. Sie blickten immer noch angestrengt in eine andere Richtung.

      Ferdi schrie mir irgendetwas Unanständiges hinterher, während ich langsam über die großen Vorplatz zur Straßenbahn schlenderte. Es war mir egal, ich hatte meine Antworten von ihm bekommen, mehr Ärger war Ferdi nicht wert.

      Thomas Becher versuchte also den Ausstieg. Sehr interessant. Aber irgendwie passte das nicht zusammen. Wenn er wirklich den ehrlichen Weg einschlagen wollte, was hatte er dann in Merkmanns Wohnung zu suchen gehabt? Das war jedoch eine Frage, die nur er beantworten konnte. Ich musste mit ihm sprechen. Als erstes würde ich versuchen müssen, seinen Sozialarbeiter ausfindig zu machen. Der würde mir genau sagen können, wo Thomas Becher untergekommen war. Das Sozialamt sollte mir diese Auskunft geben können, wenn Steinmann sie nicht sogar inzwischen schon erhalten hatte.

      In diesem Moment klingelte mein Handy und riss mich aus meinen Gedanken. Die Nummer auf dem Display gehörte Bobby.

      „Hey, Alter!“, begrüßte er mich lachend. Offensichtlich hatte er im Laufe des Tages doch noch seinen Kater überwunden und seine gute Laune wiedergefunden. „Lust auf ein Feierabendbier? Wenn ich noch eine Akte lesen muss, dann drehe ich bald durch!“

      „Und? Erfolg gehabt?“

      „Nee, bislang nicht“, verneinte er mit mürrischem Unterton. „Es gab zwar ein paar Fälle, in denen Frauen vor Gericht standen, aber in allen Fällen sind sie auch verurteilt worden. Also kein potenzielles Opfer unseres Serienmörders.” Er seufzte laut. „Und bei dir?“

      „Tja, ich war ein bisschen erfolgreicher“, prahlte ich. „Offensichtlich nimmt unser Zeuge an einem Sozialprogramm zur Wiedereingliederung teil. Wer hätte das gedacht? Aber heute ist es sowieso zu spät; sein Sozialarbeiter dürfte inzwischen längst Feierabend gemacht haben. Deswegen steht unserem Bier nichts mehr im Wege.“

      „Das wollte ich hören, mein Freund! Es warten gefühlt noch ein paar hundert Akten auf mich, die ich durchgehen muss. Du musst mich unbedingt hier rausholen!“, flehte er. „Besser jetzt als später!“

      „Geht klar. Treffen wir uns bei Mike?“

      „Das ist Musik in meinen Ohren.” Er lachte. „Bis gleich.“

      „Oh, einen Moment noch!“, brüllte ich ins Telefon, bevor er auflegen konnte. „Kannst du Steinmann Meldung machen?”

      „Kann ich machen. Aber dafür schuldest du mir was. Ein Bier, nein, warte, zwei!“

      „Ja, schon gut. Beeil dich lieber.“

      Ich seufzte, als ich auflegte. Eigentlich hatte ich mir den Abend anders vorgestellt, aber Sandra hatte mir vorhin per SMS mitgeteilt, dass sie später nach Hause kommen würde. Recherchen zu ihrem ‚Artikel’, wie sie mir in aller Kürze mitgeteilt hatte. Sie nahm das ‚Short’ in ‚Short Message Service’ sehr wörtlich.

      Ich steckte mein Handy wieder ein. Ein Abend alleine Zuhause erschien mir wenig attraktiv zu sein. Ein Abend mit einem guten Freund hingegen bot zumindest etwas Ablenkung. Vor allem, da mich Morgen mit Sicherheit ein anstrengender Tag erwarten würde. Thomas Becher war ein etwas härterer Knochen als Ferdi, bei dem gute alte Überzeugungsarbeit und ein gerütteltes Maß an Diplomatie mehr Erfolg versprachen als die bewährte Verhörmethode, die ich bei Ferdi ein paar Minuten zuvor anwenden durfte.

      Zu dem Zeitpunkt wusste ich allerdings noch nicht, dass weder gezielte Gewalt, noch diplomatisches Geschick aus Tommy neue Informationen herauspressen würden. Tommys Uhr hatte bereits zu seiner letzten Stunde geschlagen.

      20 Tage davor

      Nachdem ich beinahe eine halbe Stunde auf Bobby gewartet hatte, gab ich meinem Durst den Vorrang vor meiner Solidarität und bestellte ein kühles Bier. Bobby würde es mit Sicherheit verstehen, dass ich in diesem speziellen Fall mein Überleben vor die Freundschaft stellte. Doch aus einem wurden schnell zwei, aus zweien wurden allzu bald drei. Mike pflegte in seiner Kneipe ein ungeschriebenes Gesetz: Er schenkte so lange unaufgefordert nach, bis entweder der Gast vor dem niemals enden wollenden Bierstrom kapitulierte, oder Mike auf der anderen Seite der Theke den Gast als nicht weiter aufnahmefähig in Bezug auf alkoholische Getränke befand.

      Ich nickte geistesabwesend, als Mike mir ein weiteres Bier vor die Nase stellte. Zum Glück zeigte Mike ein ausgeprägtes Gespür dafür, wann seinen Gästen zum Reden zumute war und wann er sie lieber in Ruhe lassen sollte. Ich kann nicht für alle Gastwirte sprechen, aber bei den unzähligen Lebenstragödien und gescheiterten Existenzen, die zum Ertränken ihres Kummers in Mikes Kneipe gekommen waren, war er über die Jahre wahrscheinlich zu einem besseren Psychiater geworden, als die vielen Gelehrten, die diesen Titel offiziell tragen durften.

      Mit einem Ruck schob ich mein Handy beiseite. Sandra reagierte nicht auf meine Anrufe; ich konnte nicht vermeiden, dass ich langsam unruhig wurde. Missmutig zerpflückte ich den durchnässten Bierdeckel, der eigentlich das alte Holz der Theke vor Wasserrändern schützen sollte, mir jetzt aber als Ventil für meinen angestauten Ärger diente.

      Meine Liebe zu ihr machte es mir manchmal schwer, ihrem flatterhaften Lebenswandel folgen zu können. Anders als ich führte sie sich die Konsequenzen ihres Handelns selten bis nie vor Augen und brachte sich durch ihre unbedachte Art leichtfertig in Gefahr. Allerdings war mir auch bewusst, dass ich sie nicht permanent beschützen konnte. Ich hatte lernen müssen, ihr ihren Freiraum zu lassen und meine Angst um sie von Zeit zu Zeit einfach herunterzuschlucken. Ich konnte weder ihren Lebenswandel, noch ihr Leben kontrollieren. Eigentlich wollte ich das auch nicht, schließlich machte genau das Sandra aus. Trotzdem wäre mir wohler gewesen, sie würde wenigstens für ein, zwei Sekunden innehalten, um die Gefahren abschätzen, bevor sie sich Hals über Kopf wieder zu einem neuen Treffen mit einem unbekannten Informanten entschied, der schließlich ebenso ein irrer, entlaufener Massenmörder sein konnte wie der Kerl, dem wir gegenwärtig auf den Fersen waren. Doch ich ahnte es bereits; in einer Ehe mit ihr würde ich mit der andauernden Angst leben müssen, ihr könnte was passieren. Zum Wohle unserer Beziehung konnte und durfte ich sie nicht permanent kontrollieren,