Enzian, Yorckstraße 77
Wo der blaue Enzian blühte
Den Enzian, ein als Kneipe funktionierendes Gesamtkunstwerk, gibt es nicht mehr. Es ist jedoch wichtig zu wissen, dass es – auch noch in den ersten Jahren nach der Jahrtausendwende – in folgender Weise existierte.
Im Mittelpunkt stand der Wolpertinger, wie er auf diesem Archivfoto zu sehen ist. Das heutzutage sehr seltene, geschützte Tier ist bekanntlich in Bayern heimisch. Mit Wolpi, wie ihn die Einheimischen liebevoll nennen, wurde durch das intime Beisammensein eines Hasen, eines Turmfalken und eines inzwischen ausgestorbenen kleinhornigen Tieres die Fauna bereichert. Links vom Wolpertinger, über dem Eingang, sah man die Büsten von Marx, Lenin und Thälmann. Ihnen gegenüber war Heinrich Lübke, der seiner Nazi-Vergangenheit verdächtige und nach seiner eigenen Meinung negerliebende Präsident der Bundesrepublik aufgehängt.
Unter dem Wolpertinger, hinter der Theke, schlenderte der wahre Heino umher. Der wirkliche Heino führte einen langen Prozess gegen den wahren Heino, um zu klären, welcher von ihnen der wasserstoffblonde Schlagersänger mit der schwarzen Brille war. Der wahre Heino musste schließlich achtzehn Tage absitzen, da er doch auf seine Identität bestand.
Es ist unmöglich, Kreuzberg ohne den wahren Heino historisch zu verstehen, und er ist wiederum nicht zu begreifen, ohne über folgendes Zitat aus einem Interview gründlich nachzudenken. Über seine musikalischen Pläne sagte er: »Um die Nationalhymne zu furzen, brauche ich allerdings eine längere Vorbereitungszeit. Es gibt da ein Spezialrezept, man muss ziemlich vegetarisch essen, vor allem viele Körner. Es ist übrigens mittlerweile erwiesen, dass Vegetarier besser furzen können als Fleischesser.«
Der Geschmack des Schnapses, nach dem die Kneipe benannt war, kommt aus der Tiefe wie die Wurzel, aus der er gebrannt wird: Er schmeckt feucht wie die Erde und kalt wie der Tod. Den Geist macht er aber lebendig. Daher waren im dunklen Raum die hier und da aufblitzenden winzigen Funken, die durch die stetige Spannung verursachten Entladungen, blau. Die den Ort nicht gewöhnten Gäste saßen wie versteinert und stumm da. Obwohl, um einen namhaften Linguisten zu zitieren: »Mit der Zunge sind viele Probleme lösbar.«
Ursula Sax
Looping, 1992
Messedamm/Halenseestraße
Purzelbaum
Die große Frage einer großen Stadt ist, ob sie nur auf Autos oder auch auf Menschen zugeschnitten ist. Das Straßennetz des künftigen Berlins mit mehreren Millionen Einwohnern wurde im Jahre 1862 von einem 37jährigen Stadtrat, James Hobrecht, gezeichnet. Er bestimmte die Breite der Straßen und die Höhe der Häuser. In die Zukunft konnte er nicht sehen, und irgendwie hat er es doch getan. Infolge seiner Geräumigkeit ist Berlin die einzige mitteleuropäische Stadt, die auch 150 Jahre später dem Sturm von Autos standhält.
In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts war das traditionelle Stadtbild Westberlins von einer Zerstörung bedroht, die das Werk des 2. Weltkriegs vollendet hätte. Entsprechend der Idee einer modernen Großstadt wurden Wohnsiedlungen anstelle der alten Mietshäuser geplant, und man dachte die wichtigste Funktion der Stadt im freien Strom von Kraftfahrzeugen gefunden zu haben. Große Theoretiker der modernen Architektur und Beamte des Berliner Senats hatten ihr gemeinsames Schlüsselwort: Autobahn!
Um die Stadt des 19. Jahrhunderts zu schützen, entfaltete sich eine einzigartige soziale Bewegung. Nach ihrem Prinzip, das heute freilich als völlig absurd erscheint, sollten über die Zukunft einer Stadt ihre Bewohner und nicht die mit ihren Modellen spielenden Architekten, die städtischen Bürokraten sowie Immobilienspekulanten entscheiden. Es gelang schließlich, die Zerstörung wenigstens zu begrenzen.
Eine Autobahn ist zweifellos zeitgemäß, weil man darauf rasend vorwärtskommen kann. Man sollte nur den Nachteil einkalkulieren, dass die Verödung der Seele proportional zur Geschwindigkeit wächst. Die Arbeit von Ursula Sax steht in einer solchen Gegend Berlins, die von der Stadtautobahn beherrscht wird, wo ein Fußgänger als Fremdkörper erscheint. DasLooping bäumt sich heiter und ungezwungen gegen eine Situation auf, welche die Künstlerin als »Un-Stadt« bezeichnete. Der Druck in den Händen, die das Lenkrad krampfhaft umklammern, wird durch die Lockerheit des sich munter drehenden und windenden gelben Bandes gelöst.
Micha Ullmann
Bibliothek, 1994
Bebelplatz
In der Tiefe
Musikalischer Ton oder mathematische Gleichung dürfte so klar und einleuchtend sein wie diese Komposition. Kleine, quadratische Glasplatte auf dem Boden in der Mitte des Bebelplatzes. Darunter ein heller Raum, 7x7 Meter, mit leeren Regalen entlang den Wänden. Sie bieten Platz für zwanzigtausend Bücher. Für jene zwanzigtausend, die dort von erregten Studenten mit erhitzten, roten Gesichtern am 10. Mai 1933 ins Feuer geworfen wurden. Auf der Bronzeplatte neben dem Glas steht die Prophezeiung Heinrich Heines aus dem Jahre 1820: »Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.«
Unter den zahlreichen Denkmälern, die in Berlin an den Holocaust erinnern, erlebte keine ein so ruheloses Schicksal wie Micha Ullmans Bibliothek. Im Hintergrund stand – wie so oft bei der Zerstörung des Stadtbildes – das Zusammenspiel von Politik, Bürokratie und Privatkapital. Vergeblich sah der Künstler nicht nur das Werk, sondern »den ganzen leeren Bebelplatz« und »die Leute, die nach unten schauen« als das Denkmal an, es war vermutlich genau diese Leere, die manche Vermarktungsexperten genervt hatte: ein Platz im Stadtzentrum, der nur einen spirituellen Sinn, aber keine profitable Funktion hat.
Der erste Eingriff fällt von außen kaum auf. Nur Abstiege markieren auf der Oberfläche, am Rande des Platzes, dass unten, um das Mahnmal herum, eine Tiefgarage gebaut wurde. Schließt man sich jedoch der Deutung Micha Ullmans an, wonach es beim Denkmal um »das Grab einer Bibliothek« handelt, lassen sich die Aushebung der Erde, die um die Bibliothek zirkulierenden Abgase und das Gerassel der Motoren kaum anders als Grabschändung verstehen.
Die zweite Idee zur Nutzung des Bebelplatzes war nicht einfach rücksichtslos, sondern pervers: Auf dem Platz wurde 2008 ein Zelt aufgebaut, um eine heitere und ausgefallene Modemesse, Fashion Week genannt und von Mercedes-Benz verantwortet, zu veranstalten. Das Denkmal als Störfaktor war im Zelt mit Seilen abgesperrt und beraubte damit der Modeschau wertvolle Quadratmeter.
»Die Schauen im Juli 2008 waren ein großer Erfolg und die zentrale Lage hat dazu beigetragen. Ich bin sicher, dass sich die positive Entwicklung des Events hier fortsetzt«, feierte Wirtschaftssenator Harald Wolf von der Linkspartei das Ereignis. Die Freude des Senators durfte nicht länger als bis Januar 2010 dauern. Nach mehreren Veranstaltungen der Modemesse richteten bekannte Persönlichkeiten im Dezember 2009 eine Petition an das Abgeordnetenhaus. Der Künstler forderte in einem Brief: »Lasst diesen Ort in Ruhe.« Ihr Protest wurde nach einer öffentlichen Anhörung vom Erfolg gekrönt. Nach einem letzten Aufmarsch der besten Klamotten zog die Messe auf die Straße des 17. Juni um.
Es blieb nur noch eine Frage offen, wie das Lifestyle-Magazin LesMadssie empört formuliert hatte:»Wie soll jemals eine steigende Akzeptanz gegenüber Mode entstehen, wenn diese in Deutschland noch immer nicht als Kulturgut betrachtet wird?!«
Anne Poirier, Patrick Poirier
La Fontaine de Gorgo, 1987
Henriettenplatz
Das Gorgo-Mädchen
Bloß