Eine Mädchenbande?“, wunderte sich die Mutter und machte ein ängstliches Gesicht. „Und wo ist Emma jetzt und wer seid ihr denn überhaupt?“
Vicky nannte ihre Namen und schilderte lebhaft, wie sie und ihre Freundinnen Emma aus den Klauen der Mädchenbande befreit hatten. Die Mutter hörte mit offenem Mund zu.
„Tja, bloß die Jacke haben wir leider nicht wiederholen können, das waren einfach zu viele“, beendete Vicky ihr Schauermärchen und Emma trat endlich aus ihrem Versteck hervor. Die Mutter fiel ihr um den Hals.
„Du armes Kind“, tröstete sie ihre Tochter, was dieser recht peinlich war, denn so viel Mitleid hatte sie nun wirklich nicht verdient.
„War nicht so schlimm“, wiegelte Emma ab.
Die Mutter besann sich und bat die Mädchen endlich in die Wohnung. Im Wohnzimmer warf sich Emma erleichtert aufs Sofa, strahlte die anderen Mädchen an und sagte leise „danke“. Vicky jedoch ertrug das Herumsitzen nicht, sondern trieb die Mädels an: „Was ist, wollen wir uns nicht an die Arbeit machen?“
Alle sahen sie fragend an.
„Na so eine komische Geheimschrift ist vielleicht doch keine blöde Idee. Kann man vielleicht mal gebrauchen, wer weiß.“
„Wir gehen dann mal rüber in mein Zimmer“, sagte Emma zu ihrer Mutter, die eben ins Wohnzimmer gekommen war und sich noch immer zu wundern schien. Es war das erste Mal seit der Kindergartenzeit, dass ihre Tochter ein paar Mädchen mit nach Hause brachte. Sonst hatte sie immer nur Jungen zu Besuch.
„Soll ich euch nachher Eierkuchen machen?“, fragte die Mutter freudig.
„Nein, brauchst du nicht, Stullen sind auch okay“, antwortete Emma, weil sie die Eierkuchen ihrer Mutter leider gut kannte. Die waren zäh wie Gummi und ähnlich lecker.
„Naja, Eierkuchen kann ich sowieso keine machen, denn ich hab ja leider keine Milch“, stellte die Mutter fest. „Du solltest doch welche holen, Emma. Hast du wenigstens das Geld von den Pfandflaschen noch?“, fragte die Mutter, die immer knapp bei Kasse war und jeden Euro zehnmal umdrehen musste.
„Alles futsch. Aber das war nun wirklich die allerletzte Katastrophe, Mama“, versprach Emma voller Überzeugung, bevor sie den Mädchen ihr Zimmer zeigte. Emmas Mutter war so gerührt, dass ihre Tochter sie endlich wieder „Mama“ statt „Mutter“ genannt hatte, dass sie nicht anders konnte: Sie lief rasch selbst in den Supermarkt Milch holen, um für die Mädchen einen leckeren Eierkuchen machen zu können. Selbstverständlich nach ihrem Geheimrezept.
Zugfahrt ins Ungewisse
„Ich will keinen Hamburger, Mama, wirklich nicht!“, versuchte Timm seine Mutter zu überzeugen.
„Sei doch nicht albern, Junge. Wer weiß, wie lange das hier noch dauert. Eine halbe Stunde mindestens, das haben die doch eben angesagt. In dieser Zeit hab ich dir dreimal einen Hamburger geholt, du Angsthase. Also bis gleich!“, rief die Mutter lachend und verließ das Abteil. Weg war sie.
Natürlich hatte Timm Appetit auf Hamburger, den hatte er eigentlich immer – außer vielleicht, wenn er gerade einen gegessen hatte. Er liebte das süße, weiche Brot, das salzig-saftige Fleisch und diesen Matsch aus Tomate, Zwiebeln und Gurke darauf.
Doch als seine Mutter außer Sichtweite war, wurde ihm flau im Magen. Der Bahnhof, in dem sich der McDonalds befand, war ein gigantisches Labyrinth aus kleinen Läden, unzähligen Gleisen und elend langen Bahnsteigen, auf denen es vor Menschen nur so wimmelte. Und dort draußen irgendwo war nun seine Mutter, während er allein im abfahrbereiten ICE saß. Nun ja, allein wäre gelogen, denn Menschen gab es auch hier drinnen im Zug viele. Nur mit viel Geduld und noch mehr Glück hatten seine Mutter und er überhaupt noch Sitzplätze gefunden.
Doch als sie sich dann endlich hingesetzt und den großen Koffer verstaut hatten, war die erste Durchsage gekommen. Die Abfahrt des Zuges würde sich um fünf Minuten verzögern, hieß es. Der Zugführer sei nicht zum Dienst erschienen. Bei der zweiten Ansage waren es schon zehn, bald danach ganze dreißig Minuten „Verzögerung“.
Timm machte sich so seine Gedanken darüber, was den Zugführer wohl aufgehalten haben könnte. Vielleicht war ihm der Geschirrspüler ausgelaufen, so was hatte Timm schon mal erlebt. Das gab eine Riesensauerei, von der man sich auf keinen Fall wegbewegen durfte, ohne sie zu beseitigen. Oder er hatte etwas Falsches gegessen und kam nicht mehr vom Klo runter, weil er Durchfall hatte, der Ärmste. Vielleicht aber steckte der Zugführer mit seinem Auto einfach nur im Stau.
Egal was es war, auf jeden Fall würde es dauern. Und die Mutter hatte sicher recht. Eine halbe Stunde reichte locker aus, um bei McDonalds einen Hamburger zu besorgen, versuchte Timm sich zu beruhigen. Außerdem war er selbst schuld mit seinem ewigen Gequengel. Doch Timm konnte einfach nicht anders: Sobald er das leuchtende gelbe „M“ erblickte, forderte er von seiner Mutter Hamburger, Chicken Nuggets oder Pommes. Das war schon derart Routine, dass seine Mutter normalerweise auf Durchzug schaltete und gar nicht mehr auf seine Wünsche reagierte. Damit wiederum hatte sich Timm abgefunden und spielte das McD-Spielchen erst recht jedes Mal, wo immer er das gelbe „M“ leuchten sah.
Diesmal aber hatte sich die Mutter nicht an die Spielregeln gehalten, als sie beide an McDonalds vorbeihetzten. Während die Mutter nervös das Gleis suchte, auf dem der Zug nach Berlin abfahren sollte, hatte Timm wie immer automatisch zu quengeln begonnen: „Ich hätte gern einen extragroßen Hamburger, fünfzig Chicken Nuggets und eine XXL Portion Pommes mit zehn Tütchen Ketchup. “
Doch ausgerechnet heute hatte die Mutter ihn nicht ignoriert, sondern ihn angefaucht und gefragt, ob er denn Lust habe, den Zug zu verpassen. Dann solle er sich ruhig bei McDonalds anstellen. Er könne gern mit seinem Hamburger hier in Hamburg bleiben – haha, wie hübsch das passte! – sie aber würde sich in den Zug setzen und nach Hause fahren. Zur Not auch allein! Das hatte sie wirklich gesagt.
Und jetzt war es genau umgekehrt. Nun stand seine Mutter bei McDonalds in der Schlange, während er allein im Zug nach Berlin saß.
Nervös sah Timm auf die Uhr. Noch über zwanzig Minuten war angeblich Zeit bis zur Abfahrt des Zuges, das war sogar für seine chaotische Mutter zu schaffen. Bestimmt stand sie schon weit vorn in der Schlange. Demnächst würde sie dran kommen, bestellen, bezahlen und auf den Hamburger warten. Dann würde sie zum Zug hetzen. Sie würde sich im Slalomlauf durch die Menschenmenge schlängeln, dann die Treppe zum Bahnsteig runterhüpfen – die Rolltreppe war zu voll und vor allem zu langsam – auf das richtige Gleis achten, dann den Wagen suchen, dessen Nummer sie sich hoffentlich gemerkt hatte, rasch einsteigen und plopp – schon saß sie wieder neben Timm, in der Hand einen dicken Hamburger. Und der würde ihm nach all dieser Aufregung sicher besonders gut schmecken!
Timm kramte seine PSP hervor und fuhr ein bisschen Autorennen. Doch das lief nicht besonders gut. Oft landete er im Straßengraben oder krachte mit andern Wagen zusammen. Als eine neue Durchsage der Bahn kam, drückte er sofort die Stopptaste und lauschte.
„Meine Damen und Herren, soeben ist der Zugführer eingetroffen. Bitte steigen Sie ein, der Zug fährt in zwei Minuten ab. Wir bitten die Verspätung zu entschuldigen und wünschen Ihnen eine angenehme Reise mit der Deutschen Bahn.“
Timm erstarrte. Die PSP rutschte ihm aus der Hand und fiel zu Boden. Seit der letzten Ansage waren höchstens fünf Minuten vergangen, auf keinen Fall zwanzig! Noch war Zeit zum Aussteigen. Timm rannte zur Tür und ließ seine Augen über den Bahnsteig huschen. Doch er erblickte nur fremde, aufgeregte Gesichter, von der Mutter keine Spur.
Timm setzte gerade an, um aus dem Zug zu springen, als ihm das Gepäck einfiel. Er musste doch noch den Rollkoffer holen! Timm rannte zurück ins Abteil, stieg auf den Sitz und zerrte an dem Gepäckstück herum. Doch während er den Koffer einige Zentimeter bewegte, bekam er den nächsten Schock: Was, wenn seine Mutter doch schon im Zug war? Dann stünde er mit diesem großen Koffer allein auf dem Bahnsteig. Allein in diesem riesigen Bahnhof.