Conny Schwarz

Spuk im Reihenhaus


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seine Qual. Hinaus konnte er nun jedenfalls nicht mehr. Während sich der Zug langsam in Bewegung setzte, schob Timm den Koffer mit großer Anstrengung wieder zurück in die Ablage, stieg vom Sitz herunter, hob endlich seine PSP vom Boden auf und setzte sich still auf seinen Platz.

      Der Zug beschleunigte und ließ im Nu den Bahnhof hinter sich. Timm rührte sich noch immer nicht. Nun fuhr er also allein nach Berlin, während seine Mutter bei McDonalds in der Schlange stand. Alles war so gekommen, wie er es befürchtet hatte. Ausgerechnet heute hatte sie ihm seinen Wunsch nach einem Hamburger erfüllen müssen! Vermutlich hatte es ihr leid getan, dass sie ihn vorhin vor dem McDonald so angefaucht hatte. Oder sie hatte ihm einfach nur eine Freude machen wollen. Arme Mama!

      Timm atmete tief durch und sah aus dem Fenster. Und wunderte sich. Statt der erwarteten Angst breitete sich plötzlich in ihm eine Ruhe aus, blau wie der Himmel und leicht wie die weißen Wölkchen, die darin schwammen. Es war eben passiert und nicht mehr zu ändern. Nein, Angst hatte er wirklich keine, stellte Timm überrascht fest. Der Zug fuhr nach Berlin und dort würde er am Hauptbahnhof aussteigen. Und was sollte unterwegs schon passieren? Natürlich würde er keine Bonbons von fremden Männern nehmen und auch mit niemandem mitgehen. Wohin denn auch?

      Angst hatte Timm also keine, eher war ihm die ganze Sache unangenehm. Peinlich irgendwie. Ein Kind seines Alters fuhr nun mal nicht allein im Zug. Das war es. Was sollte er dem Schaffner erzählen, wenn der die Fahrkarte sehen wollte? Dass seine Mutter wegen einem Hamburger in Hamburg den Zug verpasst hatte? Was sollte der Schaffner da bloß von ihr denken? Und die andern Leute im Zug?

      Verstohlen sah sich Timm im Abteil um. Zwei ernste Männer in Anzügen, einer mit grauen Haaren, der andere etwas jünger, starrten auf ihre Laptops. Die dicke Frau gegenüber war in ein Buch vertieft. Ein junges Pärchen nebenan packte seinen Proviant aus und begann genüsslich zu essen – ausgerechnet Pommes und Hamburger. Nein, niemand schenkte dem Jungen Beachtung. Also hielt ihn sicher auch keiner für einen Ausreißer.

      Timm atmete auf. Die Ausläufer der Stadt lagen hinter ihnen, draußen vor dem Fenster zog nun Landschaft vorbei, immer wieder Wiesen, auf denen abwechselnd Kühe und Pferde grasten. Viele Dörfer oder kleine Städte, alles nicht besonders aufregend. Hin und wieder ein Fleckchen Wald.

      Timm war beeindruckt. Nicht etwa von der Landschaft draußen, sondern von sich selbst. Fast schien es ihm, als sei er in den letzten Minuten um mindestens zehn Zentimeter gewachsen. Er fuhr allein ICE wie andere höchstens Bus oder Straßenbahn. Seine Freunde würden staunen, wenn er ihnen das am Montag in der Schule erzählte!

      Doch jetzt wollte er weder an Montag noch an Schule denken. Heute war Sonntag und er war der Held dieses Tages. Ein krasser Typ. Ein Popstar. Ein würdiger Nachfolger von Justin Bieber oder Daniele Negroni. Sein Name war Timm – jedenfalls bis er einen cooleren gefunden hatte – und er fuhr allein nach Berlin. Natürlich zu einem Auftritt, und zwar als Sänger einer Band. In dieser neuen blauen Arena am Ostbahnhof vielleicht…

      Kreischend drängeln sich die Mädchen vor der großen Bühne und Helen, die vorn in der ersten Reihe steht und zu ihm hochsieht, ist am lautesten. Und was macht er? Ihm selbst ist nichts mehr peinlich. Er singt und tanzt ganz wild, rockt die Bühne, gibt alles, bis er schweißnass ist, als hätte ihn jemand mit einem Eimer Wasser übergossen. Vor dem letzten Song beugt er sich zu Helen runter, reicht ihr die Hand und holt sie zu sich hoch auf die Bühne, klar. Glücklich tanzen sie zusammen, als bei den Mädels da unten im Publikum ein mächtiger Tumult ausbricht, alle wollen sie zu ihm hoch, sofort, doch es sind zu viele. Die Mädchen aber, durchgeknallt wie sie sind, stürmen die Bühne, und überrennen ihn, dicke, dünne, ob mit Zahnspange oder Brille, alle total verrückt – wo aber ist Helen?

      „Keine Angst, Timmi, da bin ich wieder“, riss ihn eine vertraute Stimme aus seiner Fantasie, bevor er Helen wiedergefunden hatte. Seine Mutter stand neben ihm. Mit der einen Hand umklammerte sie einen Hamburger, in der anderen hielt sie eine riesige Tüte Pommes.

      „Puh, war gar nicht so einfach, mit vollen Händen durch den schwankenden Zug zu balancieren! Und zuerst bin ich auch noch in die falsche Richtung gelaufen“, lachte die Mutter, als sei alles nur ein dummer Witz gewesen. Als hätte Timm die ganze Zeit wissen müssen, dass sie den Zug noch erwischt hatte.

      Tim fühlte, wie er mindestens einen Zentimeter schrumpfte. Dann aber nahm er seiner Mutter endlich den Hamburger ab, biss herzhaft herein und nuschelte beim Kauen ein herzliches „danke“. Dieser Hamburger schmeckte so abartig gut, dass Timm sich sein Leben lang an diesen Geschmack erinnern würde. Egal, ob er dann Popstar, Klempner oder ICE-Fahrer war.

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