Andreas Model

Die schönsten Märchen aus Kasachstan


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      Und jetzt wünsche ich Ihnen, ob jung oder alt, eine unterhaltsame und zuweilen vielleicht auch lehrreiche Lektüre dieser so verschiedenen Märchen aus Kasachstan, die uns auch in besonderer Weise die Eigenheiten dieses Landes und seiner Menschen aufzeigen.

      Das Pferd des Khans Shanibek

      Der Khan Shanibek hatte einen Rassehengst - ein richtiger Wirbelwind. Er war der ganze Stolz des Khans und ihm das Liebste auf der ganzen Welt.

      Eines Tages wurde der Hengst krank. Der Khan wusste nicht ein noch aus vor Kummer. Er ließ alle Staatsgeschäfte ruhen, trank nicht, aß nicht und schlief nicht.

      An alle erging eine furchtbare Drohung: »Wenn es einer zu sagen wagt, mein Lieblingspferd sei tot, jage ich ihm einen Pfahl durch die Kehle.« Schrecken verbreitete sich unter den Hofleuten. Die Diener des Khans wagten kaum zu atmen. Die Pferdeknechte ließen das Pferd keine Minute aus den Augen. Das Pferd aber starb schon bald.

      Jetzt gab es keine Hoffnung mehr.

      Alle erwarteten den Tod. Die Männer sagten ihren Frauen, die Eltern ihren Kindern Lebewohl.

      Da begab sich der weise Shirensche-Scheschen zum Khan. Dieser starrte ihn mit erloschenen Augen an. »Du willst von meinem Pferd sprechen?«

      »Ja, großer Khan.«

      »Was ist mit meinem Pferd? Antworte!«

      »Oh, mein Gebieter! Sei ruhig. Mit dem Pferd ist nichts geschehen. Es hat sich nicht verändert, nur will es kein Futter, schlägt die Augen nicht auf, bewegt die Beine nicht und wedelt nicht mit dem Schwanz.«

      »Also, ist mein Pferd tot?« rief der Khan. »Ja, so ist es, mein Gebieter! Doch bedenke, dass das verbotene Wort, für das allen eine grausame Strafe drohte, nicht aus meinem, sondern aus deinem Mund kam. Ich glaube nicht, dass du dir selbst den Tod wünschst.«

      So wendete der weise Shirensche-Scheschen mit seinen klugen Worten den Zorn des Khans von sich und von den anderen ab.

      Der Esel als Sänger

      Groß ist die Welt, Menschen gibt es solche und solche, was Wunder, dass irgendwann einmal in einem Aul sorglos der alte Schwätzer Shaksybai lebte. Er besaß einen Esel. Äußerlich unterschied er sich in nichts von anderen Eseln, doch hatte er eine solche Kehle, dass sich sogar die Leute in den Nachbaraulen die Ohren zuhielten, wenn er in seinem Verschlag den Rachen aufriss.

      Eines Tages kam Shaksybai in die alte Stadt Turkestan und eilte geradewegs zum Basarplatz. Hier band er seinen Esel an einen Baum und huschte, sein Gewand hochgerafft, in eine Teestube. In einer guten Teestube sind immer viele Leute, und wo viele Leute sind, wird gesprochen, und wo gesprochen wird, wird gestritten, und wo gestritten und gesprochen wird, ist Shaksybai unübertrefflich. Es heißt ja: »Ein Schwätzer hat keinen Verschluss vor dem Mund.«

      Lange wartete der Esel vor der Teestube auf seinen Herrn. Die Sonne brannte, die Fliegen summten, die Bremsen stachen schmerzhaft. Der Esel bekam Hunger und Durst. Was tun? Er tat das, was an seiner Stelle jeder aus seiner Sippe getan hätte: Er hob den Schwanz, stellte die Ohren auf, blähte die Nüstern, riss das Maul auf und schrie. Die Leute, die sich in Geschäften und auch einfach müßig auf dem Basar tummelten, erzitterten und drehten sich zu dem Schreihals um. »Na, der hat ja 'ne Stimme!« raunte der ganze Basar. »So eine haben wir in ganz Turkestan noch nie gehört!«

      »Das ist mir neu!« freute sich der Esel. »So viele Jahre ziehe ich durch die Welt und erfahre erst jetzt, was ich wirklich wert bin. Ganz Turkestan hat mein Talent anerkannt!«

      Fortan glaubte der Esel, er sei tatsächlich als großer Sänger geboren und er überlegte: »Shaksybai will ich nun nicht mehr dienen! Ruhm und Ehre harren meiner. Werden aber dem Ruhm und Ehre zuteil, der auf seinem Rücken Holz schleppt?« In Hitze geraten, zerrte er aus Leibeskräften am Zügel und lief im Galopp aus der Stadt. Ade, alter Schwätzer Shaksybai! Ade, alte Stadt Turkestan!

      Der Esel wanderte nun durch die Wüste - die Sonne brannte noch heißer, die Mücken summten noch aufdringlicher, die Bremsen stachen noch schmerzhafter. Der Ausreißer wurde müde, vor Hunger und Durst ganz matt. Weit und breit kein Schatten, kein Grashalm, keine Pfütze. »Schwer ist der Weg zum Ruhm«, seufzte der Esel, »aber Allah hält die schützende Hand über seine Auserwählten.« Und er wanderte weiter.

      Plötzlich sah er - zu seinem Glück oder zu seinem Unglück - einen großen eingezäunten Garten. An einer Stelle war die Umzäunung nicht dicht, und durch die Lücke waren schattige Bäume, einladende, mit jungem Gras bedeckte Wiesen und blinkende Wassergräben zu sehen. Die Verlockung war groß, und der Esel zwängte sich in den fremden Garten. Alles auf der Welt vergessend, aß und trank er gierig. Ziemlich lange stampfte er über Wiesen und Blumenbeetebis er endlich bis zum Rülpsen satt war. Dann blieb er stehen, um zu verschnaufen, hob den Kopf und taumelte vor Überraschung.

      Aus dem Gebüsch trat eine junge Steppenantilope auf ihn zu, schön wie eine paradiesische Gurija. Auch die Antilope war heimlich in den Garten gedrungen. Seit dem Morgen tummelte sie sich in der Steppe und war bei ihrem ausgelassenen Treiben bis zu der Umzäunung gelangt, hatte sie übersprungen und labte sich nun an dem üppigen Gras. Als sie auf den Esel stieß, wurde sie ebenfalls starr vor Schreck und setzte schon zur Flucht an.

      Als der Esel die Antilope sah, verliebte er sich über seine langen Ohren in sie. Sein Herz hüpfte wie eine erschrockene Springmaus. Mit aufgerissenen Augen schaute er die Schöne an und dachte triumphierend: Wahrhaftig, das Schicksal meint es gut mit mir; schenkte mir eine seltene Stimme, rührte mich in den herrlichen Garten und jetzt schickt es mir eine Braut schöner als alle Bräute unter der Sonne! Er wackelte mit den Ohren und knüpfte ein Gespräch an: »Holde Dame! Mit deiner überirdischen Schönheit hast du mich bezaubert, erlaube, dass ich dir ein Lied singe. Wenn du meine süße Stimme hörst, wirst du die Liebe eines großen Sängers gewiss nicht abweisen.« Die Antilope schaute sich nach allen Seiten um und antwortete leise: »Glaubst du nicht, dass es klüger wäre zu schweigen, Esel? Gib Acht, dass uns wegen deiner Dreistigkeit nicht das gleiche Schicksal blüht wie den sieben sorglosen Dieben.«

      Und sie erzählte folgende Fabel: »Eines Nachts drangen sieben Diebe in das Haus eines Reichen ein. Sie versteckten sich im Keller zwischen riesigen Fässern mit altem Wein und warteten, bis im Hause alles still wurde, um dann ihrem Diebeshandwerk nachzugehen. Der Weinduft stieg ihnen jedoch in den Kopf, und sie schöpften mit der Hand die edlen Getränke in den Mund. Das endete damit, dass die Diebe in ihrem Rausch vergaßen, wo sie waren, und lauthals lustige Lieder anstimmten. Im Haus hörte man ihr Gegröle, die Wache des Reichen eilte in den Keller und setzte den ungebetenen Gästen arg zu. Wir beide sind doch auch nicht auf Einladung des Herrn in diesen Garten gekommen und laben uns nicht an diesen köstlichen Gräsern, weil er so großzügig ist!« endete die Antilope. »Oh, Antilope, du bist wunderschön«, entgegnete der Esel darauf, »doch bist du in der wilden Steppe aufgewachsen und hast anscheinend wenig schöne Lieder gehört. Ich verbrachte mein ganzes Leben unter Menschen, weilte sogar in Turkestan und darf wohl sagen, dass ich den Gipfel der Kunst erklommen habe. Wenn ich erst einmal mein Lied anstimme, wirst du mich bitten es niemals abzubrechen.«

      Die Antilope aber gab zur Antwort: »Wäre es nicht klüger sich in acht zu nehmen und keinen Lärm zu machen? Wer die Vorsicht vergisst, dem ist das Unglück Gewiss so wie jenem unbedachten Holzfäller.« Und die Antilope erzählte diese Fabel: »Ein Holzfäller verspätete sich im Wald, die Nacht brach herein. Plötzlich vernahm er in der Nähe laute Stimmen. Der Holzfäller kletterte hurtig auf einen Baum und versteckte sich in den dichten Ästen. Da kamen drei Dschinnen. Sie setzten sich unter den Baum, stellten ein kostbares Gefäß vor sich und begannen den Schmaus. Als ein Dschinn das Gefäß mit der Hand berührte, füllte es sich bis zum Rand mit wohlriechendem Kumys, den wahrscheinlich niemand außer den Dschinnen je getrunken hat.

      Der Morgen dämmerte herauf, die Dschinnen versteckten das Zaubergefäß unter dem Baum und verschwanden in verschiedenen Richtungen. Der Holzfäller