Andreas Model

Die schönsten Märchen aus Kasachstan


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sank er in den Schnee und stammelte verzweifelt: »Weshalb diese Pein, hätten mich doch nur die Wölfe zerfleischt!« Kaum hatte er das gesagt, da stand ein riesiger Wolf vor ihm: das Fell gesträubt, die Augen runkelten! »Endlich Beute!« heulte der Wolf. »Da werden sich meine Kleinen freuen.«

      »Töte mich, Wolf«, sagte der Junge still. »Sollen sich deine Kinder freuen. Der Tod ist für mich schöner als das Leben.« Der Wolf rührte sich aber nicht von der Stelle und schaute den Jungen unverwandt an. Endlich stieß er aus: »Bist du nicht Sarsembai, der mir das lahme Schaf gegeben hat? Guten Tag, ich habe dich erkannt. Fürchte dich nicht, ich tue dir nichts zuleide, ich will dir sogar dein Leben retten. Setze dich auf mich und halte dich fest!«

      Sarsembai setzte sich auf den Wolf, und der trug ihn durch hohen Schnee bis zum Rand eines tiefen Waldes und sprach: »Siehst du das Lichtlein dort in der Feme? Dort brennt ein Lagerfeuer. Da haben Räuber Rast gemacht. Jetzt sind sie weiter geritten und kommen nicht so bald zurück. Gehe hin und wärme dich an dem Feuer. Am Morgen wird es vielleicht wärmer. Lebe wohl!«

      Der Wolf verschwand, und Sarsembai eilte zum Feuer. Er wärmte sich und fand zur Stärkung ein paar Knochen, die die Räuber ins Feuer geworfen hatten.

      Vor Glück hätte er am liebsten ein Lied angestimmt. Was braucht ein Armer mehr zum fröhlich sein?

      Der Morgen graute, das Feuer brannte nieder und verlosch. Als das Holz verkohlt war, steckte der Junge die Hände in die warme Asche. Das war eine Wohltat! Er grub sie immer tiefer hinein und stieß plötzlich mit den Fingern an etwas Hartes.

      Sarsembai zog es aus der Asche, und ein Schrei der Verwunderung kam von seinen Lippen. Ein goldenes Kästchen! Das Herz schlug dem Jungen höher. Was mochte darin sein?

      Sarsembai klappte den Deckel auf. Sogleich zeigte sich der Rand der Sonne über der Erde, und der erste Strahl fiel auf das Kästchen. Sarsembai schrie auf und kniff die Augen zu, weil es so glänzte. Das Kästchen war über und über voll mit Edelsteinen. Der Hirte drückte das Kästchen an sich und lief außer sich vor Freude in den Wald. Wenn ich nur bald an ein Haus käme, dachte er. Vorbei die Not! Mein Schatz reicht für hundert Leute.

      Der Wald aber wurde immer dichter und dichter. Sarsembai bekam Angst, er bereute schon, dass er so tief ins Dickicht des Waldes gelaufen war. Was fange ich hier mit dem Schatz an?

      Da schimmerte zwischen den Baumstämmen Licht, und der Junge trat auf eine große Wiese. In der Mitte stand an einem fließenden Bach eine große weiße Filzjurte. Wer mag hier wohnen, überlegte Sarsembai. Werden sie einem hilflosen armen Teufel nichts zuleide tun? Sarsembai versteckte das goldene Kästchen in der Höhle einer alten Eiche und betrat die Jurte. »Guten Tag!« sagte er.

      In der Jurte brannte das Herdfeuer, davor kauerte, den Kopf gesenkt und in Gedanken versunken ein Mädchen. Als es den Fremdling sah, sprang es auf und starrte ihn überrascht und erschrocken an. »Wer bist du Bursche, wo kommst du her?« fragte es schließlich. Sarsembai verschlug es die Sprache. Nie zuvor hatte er ein so schönes Mädchen gesehen, nur in den Liedern der Akynen wird von solchen gesungen. Es musste wohl großen Kummer haben, denn ihr Blick war traurig und das Gesicht schneeweiß.

      Sarsembai fasste sich und sprach: »Ich bin der Waisenjunge Sarsembai. Irre durch die Welt und suche Arbeit, ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen, habe mich verirrt und bin auf deine Jurte gestoßen. Und wer bist du, Mädchen?« Das Mädchen trat auf ihn zu und sprach, vor Erregung bebend: »Ich heiße Altyn-kys, ich bin das unglücklichste Mädchen unter der Sonne. Aber was kümmert dich mein Los, Sarsembai? Du schwebst selbst in furchtbarer Gefahr. Lauf, so schnell dich deine Beine tragen, fort von hier, wenn du den Weg aus diesem verwunschenen Ort findest. Weißt du, wohin dich deine Not geführt hat? Das ist die Jurte der blutrünstigen Shalmauys-Kempir. Sie muss jeden Augenblick heimkehren. Dann ergeht es dir schlecht... Rette dich, bevor es zu spät ist...«

      Da war draußen auch schon Getöse, Gezische und Gestampfe zu hören. Das Mädchen wurde noch bleicher. »Zu spät!« sagte es entsetzt, fasste Sarsembai bei der Hand, zog ihn vom Feuer weg und deckte ihn mit einer Filzmatte zu. Von seinem Versteck aus sah Sarsembai durch eine kleine Ritze alles, was sich in der Jurte zutrug. Die Tür flog auf und ein rotlippiges Ungeheuer, die schreckliche Shalmauys-Kempir stürzte in die Jurte. Sie hatte eine Hakennase, die Haarzotteln hingen ihr herunter und sie fletschte die Zähne wie eine Wölfin. Mit ihren kurzsichtigen Augen schaute sie sich in der Jurte um, setzte sich ans Feuer, hielt ihre knochigen schwarzen Finger in die Flamme. So saß sie eine Weile da und schnaufte schwer. Altyn-kys stand unbeweglich ein wenig abseits und rührte sich nicht.

      Nachdem sich die Hexe gewärmt hatte, krächzte sie: »Komm mal her zu mir, Altyn-kys.« Vor Angst zitternd, machte das Mädchen einen kleinen Schritt zu der alten Hexe, blieb stehen, diese aber packte es mit ihren krummen Fingern und zog es zu sich heran. Altyn-kys stöhnte vor Schmerz. Sarsembai preßte die Fäuste zusammen und war schon drauf und dran, sich auf die Alte zu stürzen, aber in dem Augenblick kreischte diese auf, stieß das Mädchen von sich und schrie: »Du Nichtswürdige! Warum wirst du immer bleicher und magerer?! Weißt du denn nicht, weshalb ich dich in meiner Jurte halte? Ich hätte dich längst essen sollen, aber ich verschiebe es von Tag zu Tag, warte, bis du dich endlich besinnst und dicker wirst. Also höre und merke dir: Wenn du auch morgen noch so mager bist, brate ich dich am lebendigen Leibe auf diesem Feuer!« Damit warf sich die Alte aufs Bett und begann zu schnarchen.

      Altyn-kys saß am Feuer und weinte die ganze Nacht. Am Morgen drohte Shalmauys-Kempir dem Mädchen wieder und verließ, auf ihren Krückstock gestützt, die Jurte. Draußen hörte man Getöse, Gezische und Gestampfe, dann wurde es still. Sarsembai trat hinter der Filzmatte hervor und sagte: »Erzähle mir, wie du zur Sklavin dieser blutrünstigen Shalmauys-Kempir geworden bist.« Und Altyn-kys hob an: »In meinem Heimataul lebte ich mit Vater und Mutter in Freude und Zufriedenheit. Eines Tages fuhren die Eltern zu Besuch. Beim Abschied sagte der Vater: ›Liebe Altyn-kys, du bleibst den ganzen Tag allein. Sei ein braves Mädchen, gehe nicht hinaus und lasse niemanden ein.‹ Mir wurde langweilig in der Jurte und ich trat hinaus. Da kamen fröhliche Freundinnen, überredeten mich, mit ihnen in die Steppe zu gehen und Blumen zu pflücken. Und ich Dumme ging mit.

      Da kam eine klapprige Alte, auf einen Krückstock gestützt, auf mich zu. ›Ei, was für ein hübsches, was für ein schönes Mädchen!‹ sagte sie. ›Wohnst du weit von hier?‹ - ›Nein, in der Nähe. Dort steht unsere Jurte.‹ - ›Dann bringe mich zu dir und gib mir einen Schluck Wasser.‹ Ich ahnte nichts Böses, führte sie in den Aul und gab ihr Wasser. Sie aber wollte nicht aus der Jurte und schaute mich unverwandt an. ›Ei, was für ein hübsches, was für ein schönes Mädchen! Ich will dir die Haare kämmen.‹ Ich legte ihr den Kopf auf den Schoß, sie zog einen goldenen Kamm heraus und kämmte mich. Da wurde ich furchtbar müde! Ich schloss die Augen und schlief fest ein. Ob ich lange geschlafen habe, weiß ich nicht, jedenfalls wachte ich in dieser Jurte auf. Inzwischen sind viele Tage vergangen. Seitdem habe ich außer der Shalmauys-Kempir niemanden gesehen. So lebe ich nun Tag für Tag in Erwartung des Todes.«

      Als Altyn-kys geendet hatte, flehte sie Sarsembai abermals unter Tränen an, er solle weglaufen, ehe Shalmauys-Kempir zurückkommt. Aber Sarsembai lächelte nur zärtlich, dann umarmte er sie wie seine Schwester und sagte: »Ich lasse dich nie allein, Altyn-kys. Wir gehen zusammen fort.«

      »Danke für die guten Worte, Sarsembai«, sagte Altyn-kys, »aber das wird sich nie erfüllen. Shalmauys-Kempir holt uns ein, und wenn sie uns nicht einholt, erfrieren wir irgendwo im Schnee.«

      »Wir warten den Frühling ab und laufen fort.« Altyn-kys seufzte kummervoll. »Die Tapferen sind oft unbesonnen«, sagte sie. »Du hast wohl vergessen, dass Shalmauys-Kempir mich heute tötet.«

      »Nein, Altyn-kys, du wirst nicht sterben!« rief der Junge hitzig. »Ich habe mir alles gut überlegt. Shalmauys-Kempir ist schlau, wir wollen aber versuchen sie zu überlisten. In der Jurte ist es dunkel, ich ziehe dein Kleid an und gehe heute statt deiner zu ihr! Ich bin größer und kräftiger als du. Vielleicht glückt es uns die Alte zu übertölpeln und bis zu den warmen Tagen durchzuhalten.«

      Altyn-kys wehrte mit den Armen ab und sagte, dass sie nie und nimmer ein solches Opfer von Sarsembai annehmen könne.