Andreas Model

Die schönsten Märchen aus Kasachstan


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den Verräter Baigys zu suchen und zu bringen. Drei Tage war der Rabe auf der Suche, kehrte aber unverrichteter Dinge zurück, denn nirgends hatte er eine Spur von dem ungehorsamen Vogel gefunden. Nun schickte der Khan den raschen Falken auf die Suche.

      Der Falke fand Baigys auf einem Berg unter einem Stein. Der Ungehorsame hatte sich unter den Stein verkrochen, weder mit dem Schnabel noch mit den Krallen war an ihn heranzukommen. Da sagte der Falke: »Ehrenwerter Baigys, was tust du da?«

      »Ich denke nach.«

      »Worüber denn? Was hast du gesagt? Ich habe dich nicht verstanden.«

      Da steckte Baigys den Kopf unter dem Stein hervor, der Falke aber packte ihn und schleppte ihn in den Klauen zum Khan.

      Baigys sang, Ach, verloren bin ich! Bin dem Tod verfallen! Hart sind die Liebkosungen von Feindeskrallen.

      Der Falke warf Sulejmen den Vogel zu Füßen, doch auch vor dem Khan sang Baigys sein Lied weiter:

      Du, mein Köpfchen, bist kaum einen Finger breit.

      Bin nicht größer als ein Sperling unterm Federkleid.

      Wenig Fleisch und wenig Blut an meinem Körper ist.

      Auch ein Abendfalke wird nicht satt, wenn er mich frisst.

      Sulejmen gab ihm einen drohenden Fußtritt: »Baigys, warum bist du meiner ersten Aufforderung nicht gefolgt?« - Baigys antwortete: »Ich habe nachgedacht.«

      »Worüber denn?«

      »Ob es mehr Berge oder mehr Täler auf der Welt gibt.«

      »Und zu welchem Schluss kamst du?«

      »Es gibt mehr Berge, wenn man auch die Häufchen, die die Maulwürfe in der Steppe aufwerfen, zu den Bergen zählt.«

      »Worüber hast du noch nachgedacht?«

      »Ob es mehr Lebende oder mehr Tote gibt.«

      »Und was meinst du?«

      »Es gibt mehr Tote, wenn man die Schlafenden für Entschlafene hält.«

      »Und worüber hast du noch nachgedacht?«

      »Ob es mehr Männer oder mehr Frauen gibt.«

      »Und was meinst du?«

      »Frauen gibt es viel mehr, wenn man jene kleinmütigen Männer dazu zählt, die den Kopf verlieren und bereitwillig jeder Laune der geliebten Frau nachgeben.«

      Als Baigys dies sagte, hielt Sulejmen die Hand vor die Augen und wurde über und über rot: Der Beherrscher der Welt verstand die Anspielung des kleinen Vogels. Sofort ließ er alle seine gefiederten Untertanen frei, die hoben sich singend und zwitschernd in die Lüfte und flogen in ihre Nester. So wurde der Palast aus Vogelknochen nie gebaut. Die Vögel aber wählten den schlauen Baigys, der ihnen das Leben rettete, für alle Zeiten zu ihrem Richter.

      Der Reiche und der Arme

      Im vorvorigen Jahrhundert lebten zwei Brüder. Der Jüngere hatte keine Kinder, trieb viel Handel und war reich. Der Ältere war arm, seine ganze Freude waren seine beiden Söhne, Chassen und Chussain. Wenn im Sommer die Beeren reiften, pflückten sie die beiden Söhne und die Mutter verkaufte sie auf dem Basar. Davon lebte die Familie.

      Eines Mittags, als sich Stille über die Natur legte, als der Schatten groß wurde und im hellen Sonnenschein schwer zu erkennen war, ob das Wasser im Fluss strömte, streiften Chassen und Chussain durchs Ufergesträuch. Plötzlich flatterte ein nie gesehener herrlicher blauer Vogel auf. Die Burschen bestaunten ihn, da erhob er sich in die Lüfte und entschwand ihren Augen. Chassen und Chussain suchten sein Nest und fanden es bald. Darin lagen weißblau gemaserte Eier. Die Jungen waren sehr hungrig und freuten sich über den Fund. Aber die Eier waren so klein, dass Chassen und Chussain dachten: Wenn wir sie essen, stillt das unseren Hunger nicht. Besser bringen wir sie unserem reichen Onkel. Also begaben sie sich geradewegs zum Onkel und fragten ihn, ob er nicht die weißblau gemaserten Eier des blauen Vogels kaufen möchte. »Wo habt ihr sie her?« fragte der Onkel. »Aus dem Brombeergebüsch«, antworteten die Brüder. Der Onkel nahm die Eier, gab Chassen und Chussain zu ihrem größten Erstaunen hundert Rubel und sprach: »Wenn ihr den blauen Vogel fangt, gebe ich euch noch zweihundert Rubel.«

      Weshalb dem Onkel so viel an dem blauen Vogel lag, wussten Chassen und Chussain nicht, doch ohne lange darüber nachzudenken, nahmen sie die Fangschlingen und gingen zu der Stelle, wo sie das Vögelchen gesehen hatten. Sie fanden das Nest, stellten dort eine Fangschlinge auf und versteckten sich im Gebüsch. Bald kam das Vögelchen geflogen, schaute sich nach allen Seiten um, flatterte ins Nest und ging in die Falle. Wie sehr den Kindern der wunderbare blaue Vogel auch Leid tat, trugen sie ihn doch zum Onkel. Obwohl er sonst sehr geizig war, hielt er diesmal Wort. Anscheinend war ihm das Vögelchen sehr viel wert und er und gab Chassen und Chussain zweihundert Rubel, Zucker und Gewänder. Das alles brachten die Brüder nach Hause. Aber das Glück sollte in der Familie des Armen nicht lange währen.

      Weder der Vater noch die Söhne wussten, dass der Onkel den blauen Vogel getötet und seiner Frau gegeben hatte. »Koche mir zum Abend ein Essen daraus«, sagte er. »Gib aber keinem Menschen auch nur ein winziges Stückchen von diesem Vögelchen! Hast du verstanden?« Die Frau dachte: Was für ein Essen ergibt dieses Vögelchen, wo doch der Mann einen Hammel auf einmal verschlang? Sie widersprach aber nicht, rupfte das Vögelchen, zerlegte es, warf es in den Kessel, goss Wasser darüber, stellte es aufs Feuer, ging zur Nachbarin und schwatzte sich dort fest.

      Unterdessen wollten Chassen und Chussain, von Neugier getrieben, bei dem Onkel in Erfahrung bringen, was aus dem Vögelchen geworden war. Bei dem Onkel trafen sie niemand an, nur aus dem Kessel stieg dichter Dampf auf. »Kocht hier etwa unser Vögelchen?« sagte Chassen verwundert. »Vielleicht ist es das Vögelchen«, brachte Chussain nicht weniger verwundert heraus. Sie traten näher an den Kessel, hoben den Deckel an und sahen das blaue Vögelchen darin kochen. »Lass uns kosten!« schlug Chussain vor. »Gewiss, kosten wir!« willigte Chassen ein.

      Sie fischten mit dem Löffel das Herz des Vögelchens heraus, teilten es zur Hälfte, aßen es auf und gingen wieder. Die Hausfrau kam, nahm einen Löffel, langte das Fleisch heraus und erbleichte: Das Herz war verschwunden! »Das setzt gewiss Schelte von meinem Mann! Warum musste ich mich auch so lange bei den Nachbarn aufhalten!« schalt sie sich. Aber Worte halfen wenig. Sie ging hinaus, fing einen Hahn, schlachtete ihn, nahm das Herz heraus, warf es in den Kessel und beruhigte sich.

      Am Abend aß der Mann den köstlichen Schmaus. Nach dem Essen zwinkerte der Mann seiner Frau verschlagen zu, lächelte und sprach: »Nun, liebe Frau, der liebe Gott hat uns Glück geschenkt! Wenn wir morgen aufwachen, wird unter unserem Kopfkissen Gold liegen.« Die Frau gab darauf keine Antwort.

      Am nächsten Morgen schauten sie unter das Kissen, fanden aber kein Gold. Sie schüttelten das Bett aus, doch es fiel kein Gold heraus.

      Doch wie staunten Chassen und Chussain, als sie am nächsten Morgen unter ihren Kissen je einen ganzen Sack Gold fanden. Und nicht weniger staunten ihre Eltern. Chussains und Chassens Vater, der nie Gold gesehen hatte, erschrak und. rannte zu seinem Bruder, um Rat zu holen. »Oh weh, lieber Bruder, sage mir doch, was geschehen ist? Meine Kinder haben heute Morgen unter ihren Kissen je einen ganzen Sack Gold gefunden. Ist das schlecht oder gut?«

      Die Augen des Kaufmanns sprühten Funken vor Neid. Er runzelte die Augenbrauen, schaute zu Boden und sprach drohend: »Um dich steht es schlecht, sehr schlecht! Böse Geister treiben ihr Spiel. Einmal sprach ich mit einem Mullah, und auf die Gnade Allahs hin sagte er: ›Der böse Geist verdirbt den Menschen! Diesen bösen Geist muss man vertreiben.‹ Nimm deine Söhne, führe sie fort und töte sie, denn sie bringen dir nur Unheil. Das Gold aber gib mir.«

      Der Vater kehrte betrübt nach Hause. Er überlegte hin und her, zu guter Letzt entschied er: Töten kann ich meine Kinder nicht, ich bringe sie weit in die Steppe oder in den Wald, damit meine Augen sie nicht sehen und meine Ohren sie nicht hören. Am nächsten Morgen borgte er bei den Nachbarn ein Fuhrwerk, setzte seine Kinder darauf und