Andreas Model

Die schönsten Märchen aus Kasachstan


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die Chussain zugewandte Seite war heil, die andere Seite verbrannt. Chassen war nicht mehr am Leben. Chussain weinte und dachte: Wenn nicht den lebenden, dann suche ich den toten Bruder! Chussain gelangte in jene Stadt, in der Chassen gelebt hatte. Er wurde dort in Ehren empfangen und in den Palast geführt. Hier begegnete Chussain einer jungen Frau und erfuhr, dass sie die Frau des Bruders war. Der überschwängliche Empfang, den ihm der Wesir bereitete, der nach Chassens Tod in den Khanpalast zurückgekehrt war, weckte Chussains Argwohn. Hier stimmt etwas nicht, dachte er. Ist mein armer Bruder etwa Opfer dieses Wesirs geworden? Die ganze Nacht dachte Chussain darüber nach, und als er am Morgen von Khanschaim erfuhr, dass der Bruder bei der Jagd verschwunden war, begab er sich auf die Suche.

      Ebenso wie Chassen überraschte auch Chussain das Unwetter. Die Tanne, die die Zuflucht und das Grab des Bruders wurde, bot auch Chussain Schutz. Sobald er Feuer gemacht hatte, entdeckte er in den Zweigen die Alte, und bekam ebenso wie sein Bruder Mitleid mit ihr. »Klettere herunter von dem Baum, Großmutter, und wärme dich«, sagte er. »Ich würde ja herunterklettern, mein Sohn«, sprach die Alte. »Aber ich fürchte den Hund. Warte, ich will ihm mit der Rute drohen.« Chussain schaute die Alte an, und ein Stich fuhr ihm ins Herz. Er erhob sich von dem Stein, auf dem er saß, setzte das Gewehr an und sagte: »Klettere herunter, oder ich schieße!«

      Die Alte kroch, zitternd vor Angst, vom Baum und Chussain sprach zu ihr, »Ich glaube, du weißt, wo mein Bruder ist. Heraus mit der Sprache oder es kostet dich dein Leben!«

      »Der Stein, auf dem du saßest, ist dein Bruder«, antwortete die Alte. »Der Wesir befahl mir, ihn herzulocken und zu töten. Erbarme dich meiner, ich gebe dir deinen Bruder zurück. Nimm die zwischen den Zweigen versteckte Rute und schwinge sie.« Gesagt, getan - und anstelle des Steins, auf dem er gesessen hatte, stand Chassen vor ihm. Groß war die Freude, als sich die Brüder nach so langer Trennung endlich in die Arme schlossen.

      Lange blieb Chussain bei Chassen zu Gast, aber eines Tages sprach er: »Ich will dich an das Sprichwort erinnern, das du mir bei dem alten Jäger sagtest: ›Der Hund sucht die Stelle, wo er sich satt gefressen hat, der Mensch den Ort, an dem er geboren wurde.‹ Glaubst du nicht, dass es Zeit wäre, unsere Eltern zu suchen?«

      »Obgleich du das Sprichwort nicht ganz richtig wiedergegeben hast, bin ich einverstanden. Wenn wir unsere Eltern noch lebend antreffen wollen, dürfen wir unsere Suche nicht länger aufschieben.« Gesagt, getan. Mit der erstbesten Handelskarawane zogen Chassen und Chussain los und kamen endlich an einem Festtag auf dem Basarplatz der Heimatstadt an. Hier begegneten sie ihrem Onkel, dem reichen Kaufmann. Der schritt durch die Handelsreihen, der großen Karawane mit den Waren entgegen. Seine Neffen erkannte der Onkel nicht, doch als sie sich zu erkennen gaben, schmeichelte er ihnen und hätte ihnen am liebsten die Hände geküsst. »Wo sind unser Vater und unsere Mutter?« fragten Chassen und Chussain wie aus einem Munde. »Hier, in der Stadt. Weshalb sucht ihr die Alten, die doch längst das Licht nicht mehr sehen? Ihr seid doch reich genug«, sprach der Onkel.

      Chassen und Chussain fragten unter den Leuten nach ihren Eltern. Man zeigte ihnen eine alte verfallene Hütte ohne Fenster. In der Dunkelheit konnten sie nicht erkennen, wer sich in der Hütte befand. Chassen und Chussain machten Feuer und erblickten zwei blinde Alte in schmutzigen zerlumpten Sachen. »Vater! Mutter! Was ist euch widerfahren?« riefen sie. Die Mutter fing an zu weinen, als sie die vertrauten Stimmen hörte. Der Vater schwenkte bewegt und freudig die Arme und sagte: »Gibt es denn auf der Welt noch einen Menschen, der mich sucht? Sind etwa meine längst gestorbenen Söhne gekommen?«

      Chassen und Chussain erzählten alles der Reihe nach: Wo sie gewohnt, was sie gesehen und wie sie schließlich zu den Eltern zurückgefunden haben. »Warum ließest du uns damals im Wald allein? Jagtest du etwa dem Golde nach?« fragte Chassen den Vater. »Warum holtest du uns damals nicht? Wir hätten ja noch mehr Gold haben können!« warf auch Chussain dem Vater vor. »Vergebt mir, meine Kinder«, sagte der Alte weinend. »Euer Onkel sagte, ich müsse ihm nach Allahs Willen das Gold geben und euch töten, weil böse Geister euch beherrschten. Die Trennung von euch trugen auch wir sehr schwer, und ihr seht, was aus uns geworden ist. Euer reicher Onkel half uns nicht aus der Not. Aber die schwerste Strafe ist, dass wir nicht sehen können!« Der Alte schwieg.

      Chassen und Chussain verließen die Hütte. Sie gingen auf den Markt, suchten den Onkel und warfen ihn in einen tiefen Brunnen. Als Chassen und Chussain vom Basar zurückkehrten, kamen ihnen die Eltern entgegen. Sie konnten sich am Anblick ihrer Söhne nicht satt sehen. Da wunderten sich die Brüder, dann aber begriffen sie alles, wieder hatte der Stock seine Zauberkraft gezeigt.

      Der Schmied und seine treue Frau

      Es war vor langen Zeiten. Da lebte in einer Stadt ein kunstfertiger Schmied. Seine Hände brachten alles fertig, was sich der Mensch in seiner Phantasie ausmalte, dennoch konnte er mit all seiner Arbeit nicht genug Brot für sich und seine Frau kaufen. In jener Stadt lebte das Volk in Armut, und der Schmied, der nirgends Arbeit fand, litt die größte Not. Doch nie gab er sich seinem Kummer hin, scherzte stets mit den Freunden, sang Lieder, aber von den Sorgen wurde sein Herz schwarz wie Kohle. Er selbst hätte demütig alles erduldet, doch bereitete es ihm große Pein, dass seine junge Frau, eine solche reizende Schönheit, wie sie nur alle hundert Jahre die Welt erblickt, diese schreckliche Not litt.

      Deshalb wollte sich der Schmied in die Hauptstadt des Khans begeben, um dort Arbeit zu suchen, denn er hoffte, dass die reichen Leute allerlei Gegenstände benötigten, die er mit seinen geschickten Händen herstellen konnte.

      Beim Abschied sagte er zu seiner Frau: »Ach, du mein Leben! Für drei Jahre begebe ich mich in fremde Lande. Wirst du mich bis zu unserem Wiedersehen nicht vergessen? Wirst du mir die Treue halten?« Da neigte sich die Schöne zur Erde, pflückte eine blaue Blume und reichte sie dem Gatten mit den Worten: »Mein Geliebter! Nimm dieses Blümchen und bewahre es so, wie ich meine Ehre als Deine Frau bewahren werde. Wo du auch sein magst, wie viel du auch durch die Welt wanderst, sei gewiss: Solange die Blume nicht welkt, welkt auch nicht meine Liebe zu dir.«

      In der Hauptstadt angelangt, ging der Schmied in eine Teestube, um nach dem langen Weg eine Schale Tee zu trinken. Unter den vielen Leuten fielen ihm drei gut gekleidete Männer auf, die schweigend dasaßen, weder Essen noch Trinken anrührten, so als bedrücke sie großer Kummer. Als die Drei den Unbekannten eintreten sahen, betrachteten sie ihn so aufmerksam, dass dem Schmied unheimlich wurde. »Warum schaut Ihr mich so an, verehrte Herren?« begann der Schmied das Gespräch. »Ich bin ein armer, aber ehrenwerter Mann. Aus der Ferne kam ich in die Hauptstadt, um Arbeit zu suchen. Ich bin Schmied, und wer mir etwas aufträgt, wird es nie bereuen.«

      Die drei Männer warfen sich viel sagende Blicke zu, und der Älteste rief den Schmied heran und sagte freundlich: »Lausche jedem meiner Worte. Wir drei sind Wesire des Khans, was der Teestubenbesitzer nicht weiß und nicht wissen darf. Nicht aus Übermut oder aus Neugier streichen wir über die Basare und durch die Karawansereien, durch die Teestuben und andere belebte Orte, eine wichtige Angelegenheit zwingt uns dazu. Der Khan hieß uns, für ihn einen Palast aus Gold und Silber zu bauen, versprach uns guten Lohn, wenn wir seinen Wunsch erfüllen, aber er drohte uns mit dem Tod, wenn sein Palast nicht rechtzeitig erbaut wird. Nun sind wir in großer Bedrängnis, weil die Zeit verfließt, wir aber in der Hauptstadt keinen Meister finden können, der einen solchen ungewöhnlichen Auftrag übernehmen würde. Kannst du uns, wenn nicht mit der Tat, so wenigstens mit einem Rat helfen?« Glückstrahlend sagte der Schmied: »Weise Wesire, das Schicksal selbst hat mir die Tür zu dieser Teestube geöffnet. Gebt mir so viel Gold und Silber wie nötig, obendrein siebzig Gehilfen, und ich baue euch rechtzeitig einen Palast, wie ihn noch kein Khan gesehen hat.«

      Noch am selben Tag ging der Schmied an die Arbeit. Der Schmiedeherd glühte, das kostbare Metall klirrte unter dem Hammer, flinke Gehilfen liefen geschäftig hin und her und erfüllten die Anweisungen ihres Meisters. Am festgelegten Tag dann war der Palast fertig. Und wirklich, keine Hauptstadt konnte sich eines solchen Palastes rühmen: Das Gold und Silber, aus dem die Mauern und das Dach bestanden, war nichts im Vergleich mit seiner Pracht. Als der Khan den neuen Palast sah, freute er sich wie ein Kind und verdreifachte den Lohn für seine Wesire. Dann sprach er: »Zeigt mir den Meister, der auf Erden