Andreas Model

Die schönsten Märchen aus Kasachstan


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gerieten. Durch die Baumstämme schimmerten dichte Büsche, und die Jungen sahen viele Beeren. »Hier bleibt und sammelt Brombeeren.« Mehr konnte der Vater nicht sagen, wandte sich um und ging weinend zu den Pferden. Als er wieder zurückgekehrt war gab er dem Onkel das Gold und glaubte, die bösen Geister vertrieben zu haben.

      Chassen und Chussain sammelten einen Sack voll Beeren. Dann ruhten sie sich aus und warteten auf den Vater. Der aber kam und kam nicht. Also mussten die Brüder im Wald übernachten. Als sie am nächsten Morgen erwachten, sahen sie über ihren Köpfen wieder zwei Säcke Gold. Die Brüder rührten sie nicht an und zogen immer der Nase nach durch den Wald. Unterwegs begegneten sie einem alten Jäger hoch zu Ross. »Guten Tag, Großvater!« sagten die Brüder wie aus einem Munde. »Guten Tag, Kinder! Woher und wohin des Weges?«

      »Woher wissen wir nicht, der Wald ist groß, unser Weg führt uns zum Erstbesten. Wer keine Töchter hat, dem wollen wir Töchter sein, wer keine Söhne hat, dem wollen wir Söhne sein.«

      »Ich habe keine Kinder, seid meine Söhne. Willigt ihr ein?«

      »Es sei so«, willigten die Jungen ein. Der Alte hob die Brüder auf das Pferd und sprach: »Reitet los, das Pferd bringt euch zu meinem Haus.« Die Brüder dankten dem alten Mann. »Großvater, dort, wo wir schliefen, liegen zwei Sack Gold«, sagten sie. Lange lebten Chassen und Chussain bei dem alten Jäger, gewöhnten sich an das Waldleben, lernten sicher schießen und wurden erfahrene tapfere Jäger. Der arme alte Jäger wurde zum reichsten Mann weit und breit.

      Als die Brüder herangewachsen waren, fanden sie kein Gold mehr unter ihren Kopfkissen. Eines Tages redeten sie lange miteinander und erinnerten sich an ihr Leben. »Chussain, kennst du das alte Sprichwort«, fragte Chassen. »›Der Hund kehrt, wo er auch umher streunt, immer dorthin zurück, wo er einen Fleischknochen fand, den Menschen treibt es stets zum Ort seiner Geburt.‹ Wollen wir ausziehen und unsere Eltern suchen!«

      »Was du tust, werde auch ich tun. Wohin du gehst, dahin will auch ich gehen«, sagte Chussain. »Lass uns aufbrechen!« Sie gingen zu dem Alten, um Abschied zu nehmen. Die jungen Dshigiten bedauerten ihn, und er sprach: »Ich könnte euch eine Herde Vieh als Geschenk mitgeben, doch ich sehe, ihr braucht das nicht. Ich wünsche euch Glück und Segen!« Der Alte gab Chassen und Chussain zwei gute Pferde und sie preschten davon.

      Einen Monat lang waren die Brüder unterwegs und kamen schließlich an eine Weggabelung. »Hier trennen sich unsere Wege«, sagte Chassen. »Du reitest nach rechts, ich reite nach links.«

      »So soll es sein«, antwortete Chussain. »Wo es uns auch hin verschlägt, auf dem Rückweg begegnen wir uns hier wieder.« An der Gabelung steckten sie ein Messer mit Holzgriff in die Erde. »Ob wir tot oder lebendig sind, zeigt uns das Messer«, sagte Chassen. »Stirbt einer von uns, verbrennt die seiner Richtung zugewandte Seite.«

      Die Brüder nahmen Abschied und ritten in verschiedene Himmelsrichtungen. Lassen wir Chussain reiten, er nimmt seinen Weg. Jetzt soll von Chassen die Rede sein.

      Als Chassen einige kleine Wäldchen hinter sich gelassen hatte und in die offene Steppe ritt, breitete sich vor ihm eine große Stadt aus.

      Je näher er kam, desto mehr staunte er: Überall hingen große schwarze Fahnen und große schwarze Tücher hüllten die Häuser ein. »Warum trauert die Stadt?« fragte Chassen das erste alte Weib, das er traf. »Du scheinst nicht von hier zu sein«, sagte die Alte. »Nun, wenn du willst, sage ich es dir! Ein gefräßiger siebenköpfiger Drache treibt bei uns sein Unwesen. Jeden Tag verschlingt er ein Mädchen und einen Hasen. Heute muss der Khan dem Drachen seine Tochter zum Fraß geben.

      Der Khan ließ überall verkünden: Wer den Drachen tötet und Khanschaim rettet, erhält sie zur Frau. Nur fand sich kein Tapferer in der Stadt, und der Khan befahl, überall schwarze Fahnentücher aufzuhängen.«

      Chassen ritt schnurstracks zum Khan. Dieser war gerade nicht zu Hause, aber in einem Zimmer, neben den Gemächern des Herrschers, sah Chassen einen gefesselten Hasen und ein wunderschönes Mädchen. Ihre schwarzen Zöpfe glichen usbekischer Seide, ihr Blick blendete ihn wie ein Sonnenstrahl. Als Khanschaim den jungen Mann sah, zuckte sie zusammen. »Fürchte dich nicht«, beschwichtigte Chassen sie. »Ich rette dich aus den Klauen des Drachens. Wie willst du mir es danken?«

      »Wenn du mich befreist, nehme ich dich zum Mann.« Chassen dachte eine Weile nach und sprach: »Ich komme von weit und bin müde. Ich will mich ausruhen. Wenn der Drache erscheint, wecke mich.«

      Chassen schlief fest, als es plötzlich klopfte und lärmend die Tür aufschlug. Khanschaim erstarrte vor Entsetzen, als sie auf der Schwelle einen Drachenkopf sah, dann den zweiten, den dritten. Chassen schlief fest. Er wachte nicht einmal von dem Schrei des Mädchens auf. Der Drache näherte sich. Khanschaim beugte sich über Chassen und weinte bitterlich. Die heißen dicken Tränen fielen ihm aufs Gesicht und weckten ihn. Nun sah Chassen den Drachen vor sich. Blitzschnell zog er das schwere Schwert aus dem Gürtel, schwang es, und die sieben Köpfe des Drachen rollten. Khanschaim zog einen goldenen Ring vom Finger, gab ihn Chassen, und er verließ den Palast.

      Da schaute zufällig ein Wesir zur Tür hinein. Als er sah, dass das Mädchen am Leben und der Drachen erschlagen war, wunderte er sich, erblickte aber sogleich eine gute Gelegenheit, sich bei dem Khan einzuschmeicheln. Von dem Mädchen ungesehen, eilte er fort und brachte dem Khan die überraschende frohe Nachricht. »Ich selbst habe die Schlange getötet und Khanschaim gerettet!« sagte der Wesir. »Halte dein Versprechen, Khan, gib mir Khanschaim zur Frau!«

      »Es soll sein!« antwortete der Khan. Er ließ nun weiße Fahnen aushängen, die Häuser mit weißen Tüchern schmücken, damit alles Volk wusste, dass der siebenköpfige Drache getötet und die Tochter des Khans gerettet war. Dann versammelte er alle Mullahs in der Moschee, um die Hochzeit seiner Tochter mit dem Wesir zu feiern.

      Chassen hörte, wie sich der Wesir mit seinem Sieg über den Drachen brüstete. Er zeigte mit dem Finger auf ihn und sagte: »Der ist ein Lügner und ein Feigling! Kann er beweisen, dass er die Wahrheit spricht? Die Schlange habe ich getötet und nicht er!« Alle drehten sich zu Chassen um und betrachteten ihn aufmerksam. »Und wie willst du es beweisen?« versetzte der Wesir hochmütig. »Ich habe einen Beweis«, sagte Chassen, holte den Ring aus der Tasche und zeigte ihn den Versammelten. »Den Ring stahl er Khanschaim!« kreischte der Wesir böse. »Wenn du den Drachen getötet hast, dann kannst du ihn auch aufheben und aus dem Fenster werfen«, sagte Chassen.

      Wie sehr sich der Wesir auch mühte, den Drachen aufzuheben, bewegte er ihn doch nicht vom Fleck. Chassen dagegen hob den Drachen mit Leichtigkeit auf und warf ihn aus dem Fenster in den Fluss. Als der Khan nun seine Tochter holen ließ, sagte sie beim Anblick Chassens: »Dieser junge Dshigit hat mich gerettet, und ich selbst gab ihm den Ring.« Der Khan jagte den Wesir fort, gab Chassen seine Tochter zur Frau und machte ihn zu seinem Vertrauten.

      Bald wurde es Chassen langweilig in den prächtigen Gemächern des Khanpalastes, und er ritt immer öfter zur Jagd. Einmal ritt er an einem heißen Tag am Ufer eines Flusses entlang. Der Jagdhund lief neben ihm her. Unter Purpurweiden schnitzte sich Chassen eine Rute und trieb sein Pferd an. Unverhofft kam Wind auf. Es wurde kalt, dichter Schnee fiel.

      Chassen suchte eine wind- und schneegeschützte Stelle, wo er sich aufwärmen konnte und sah eine einsame hohe Tanne. Mit weichem Schnee bedeckt, glich sie einem großen Zelt. Chassen stellte das Pferd und den Hund darunter ab, brach Zweige, machte Feuer und wärmte sich. Da bemerkte er auf dem Baum in den Ästen eine Alte, die dort herzzerreißend weinte, als würde der Wind heulen. »Warum weinst du?« fragte Chassen. »Frierst du? Komme herunter ans Feuer und wärme dich.«

      »Ich würde ja herunter kommen, mein Sohn«, sprach die Alte, »aber ich fürchte den Hund. Gib mir deine Rute!« Chassen reichte ihr seine Rute, von deren Zauberkräften er nichts ahnte. Die Alte schwang sie über dem Pferd, über dem Hund und über Chassen, und alle drei verwandelten sich zu Stein und blieben so unter der Tanne liegen.

      Kehren wir nun zu Chussain zurück. Kurz nachdem er sich von seinem Bruder getrennt hatte, wurde er Khan und lebte in einer großen Stadt. An dem Tag, als Chassen nicht mehr unter den Lebenden weilte, legte sich Trauer um Chussains Herz, und er entschloss sich, den Bruder zu