Andreas Model

Die schönsten Märchen aus Kasachstan


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warf sich der Arme auf den Dieb und packte ihn an der Gurgel. Der flehte: »Habe Erbarmen, lass mich frei, ich gebe dir den Goldbarren, den ich dem Khan gestohlen habe.«

      »Ich lasse dich frei, doch sag mir, wo du den Barren versteckt hast!« forderte der Arme. »Gehe von hier gen Osten, da siehst du einen hohen Hügel und ganz oben einen großen schwarzen Stein. Darunter ist der Schatz vergraben.« Der Arme ließ den Dieb laufen und begab sich, da bereits der Morgen graute, zum Khan. Er führte den Khan gen Osten, gefolgt von der Suite und vielen Dienern. Am schwarzen Stein angelangt, hieß der Arme die Diener die Erde aufbuddeln, und sie gruben den Barren heraus. »Hehe, du scheinst mir wahrhaftig ein Hellseher zu sein! Dich will ich im Auge behalten.«

      Der Khan war so froh, dass er dem Armen auf der Stelle tausend Hammel, hundert Stuten und eine Kamelkarawane gab und ihn nach Hause ziehen ließ.

      Bald darauf stahl der gleiche Dieb das Lieblingspferd des Khans. Der wurde krank vor Kummer. Wieder ließ er den Armen kommen und wandte sich mit den Worten an ihn: »Wenn du Hellseher bist, dann sage mir, wo mein Pferd ist, und du erhältst die doppelte Belohnung. Wenn du mir aber die Antwort verweigerst oder eine falsche Antwort gibst, lasse ich dir den Kopf abschlagen.« Dem Armen lief ein kalter Schauer des Entsetzens über den Rücken, doch er wagte nicht dem Khan zu widersprechen, nur bat er wieder, für ihn in der Steppe eine Jurte aufzustellen. Der Khan erfüllte seinen Wunsch.

      Allein geblieben, sann der Arme darüber nach, wie er mit dem Leben davon kommen könnte. So saß er bis Mitternacht, schlich sich dann heimlich aus der Jurte und rannte davon, immer der Nase nach. Er geriet an eine einsame Schlucht zwischen zwei hohen Bergen, warf sich unter einen Baum und fiel in tiefen Schlaf. Nun begab es sich, dass der Dieb auf dem gestohlenen Pferd in eben diese Schlucht ritt. Er schaute sich um, glaubte sich hier in Sicherheit und wollte in der Schlucht den Morgen abwarten. Er band das Pferd an einen Baum, legte sich, ohne den schlafenden Mann zu bemerken, nieder, und schnarchte, dass es durch die Schlucht hallte. Der Arme erwachte von dem fürchterlichen Geschnarche und konnte sich lange nicht erklären, woher es kam. Da sah er neben sich einen Mann liegen und am Baum ein Pferd. Kein Zweifel - das waren der Dieb und das Pferd des Khans. Sein Herz hämmerte vor Angst und Freude. Leise stand er auf, band das Pferd los, war mit einem Satz im Sattel und jagte juchend zur Jurte des Khans.

      Als der Khan am Morgen Pferdegetrappel hörte, lief er, so wie er war, aus der Jurte, und als er sein Lieblingspferd sah, wollte er lange seinen Augen nicht trauen. Erst als er näher trat und das Pferd wieherte, war er beruhigt. Vor lauter Freude befahl der Khan, dem Armen sogleich alles zu geben, was ihm versprochen war, und als Zeichen besonderer Gnade lud er den Armen zu einer Schale Kumys ein. Die Diener brachten aus der Jurte Seidenkissen für den Khan, legten sie auf die Erde und setzten ihm eine goldene Schale mit dem besten berauschenden Kumys vor. Der Arme saß ein Stückchen weiter auf der blanken Erde und die Diener gossen ihm frischen, zur Hälfte mit Schafmilch gemischten Kumys in eine Holzschale.

      Als der Khan seinen Kumys fast zur Neige getrunken hatte, sprang ein riesiger Grashüpfer in die Schale. Der Khan wollte ihn fangen, doch der Grashüpfer hopste weg. Der Khan wollte ihn mit der Hand zerquetschen, da sprang er wieder in die Schale. Nun aber stellte sich der Khan geschickter an, bekam den Grashüpfer zu packen und versteckte ihn in seiner Faust. Der Arme hatte nichts davon gesehen. »He, Hellsichtiger, ich will dich zum letzten Mal auf die Probe stellen. Sag mir doch, was ich in der Hand halte?«

      Oh weh, jetzt bin ich in der Falle, dachte der Arme. Nun kennt der Khan Gewiss kein Erbarmen. Und nach einem schweren Seufzer sagte er laut: »Einmal entkommen, zweimal entkommen, das dritte Mal den Tod gefunden.« Der Khan glaubte, der Arme spreche von dem Grashüpfer. »Richtig geraten!« sagte der Khan und riss dem Grashüpfer den Kopf ab.

      Noch lange lachte er über die Antwort des Armen, dann beschenkte er ihn reichlich und ließ ihn seiner Wege ziehen. Von nun an litt der Arme nie mehr Not, die reichen Brüder aber, die von einem Glück erfuhren, überlebten den Verdruss nicht und starben beide am selben Tag.

      Der Khan Sulejmen und der Vogel Baigys

      Sulejmen besaß viele Schätze in seinen Palästen, am teuersten war dem Khan ein seltener Ring, den er nie vom Finger nahm. Es war ein Zauberring: Wer ihn aufsetzte, verstand die Sprache der Tiere, der Vögel und der Pflanzen und gewann Macht über alle Lebewesen. Einmal wollte sich Sulejmen auf der Jagd mit kühlem Quellwasser erfrischen. Als er eine Handvoll Wasser schöpfte, rutschte ihm der Ring vom Finger und versank. Der Khan wollte gerade in den Quellbach springen und den Ring vom Grund holen, als plötzlich ein großer Fisch auftauchte, den Ring verschluckte, mit dem Schwanz wedelte und in der Tiefe verschwand.

      In großem Kummer ging Sulejmen lange am Ufer entlang, bis er eine einsame Hütte erblickte, an der Fischernetze trockneten. Die Nacht brach herein. Der Khan betrat die Hütte. Als er über die Schwelle trat, hörte er eine näselnde Stimme: »Dank dem Schicksal! Es schenkte uns ein gutes Abendbrot.« Den Khan überlief es kalt: In der Mitte der Hütte stand die blutrünstige Hexe Shalmauys-Kempir und streckte ihre kralligen Hände nach ihm aus. Er griff nach dem Jagdmesser, da ertönte eine andere Stimme, süß wie Nachtigallengesang: »Mutter, lass ab von dem Fremdling! Sieh nur, wie schön und stattlich er ist. Der Khan Sulejmen kann nicht schöner sein.«

      Der Khan drehte sich zu der Stimme um, sein Herz klopfte und entbrannte: Auf einem bunten Teppich am Herd saß ein Mädchen, so lieblich, dass für sie jeder in den Tod gegangen wäre. Shalmauys-Kempir sprach: »Du kannst von Glück reden, dass du meiner Tochter Buluk gefällst, Fremder. Ich habe Erbarmen mit dir, doch verlasse eilends unsere Hütte, mein Alter kommt gleich zurück. Dann bist du rettungslos verloren.« Sulejmen antwortete: »Ich weiche keinen Schritt, wenn nicht die schöne Buluk mit mir geht.«

      Im selben Augenblick schäumte der Bach, die Erde dröhnte und die Hütte wankte, als tobte ein Wirbelsturm. Shalmauys-Kempir hastete aufgeregt in alle Ecken, öffnete schließlich eine Truhe und rief zu Sulejmen: »Kriech in die Truhe, Wahnsinniger! Schnell!« Kaum hatte sie die Truhe zugeschlagen, da wälzte sich der alte Menschenfresser, der einäugige Riese Djau in die Hütte. »Es riecht nach Menschenfleisch!« schrie er aus seiner riesigen Kehle. Die Frau schalt ihn: »Bist wohl ganz von Sinnen, alter Narr! Es riecht nach dem Dshigiten, den wir gestern verschmausten. Heute hat niemand bei uns hereingeschaut.«

      Die Nacht verging. Im Morgengrauen ging der Djau zum Bach auf Fischfang und kehrte bald mit gutem Fang zurück. »Macht Frühstück«, befahl er der Frau und der Tochter. »Ich gehe wieder auf Jagd, vielleicht erbeute ich zum Mittag einen Recken oder das Ross eines Recken.« Er ging. Shalmauys-Kempir ließ Sulejmen aus der Truhe und stieß ihn zur Tür. »Fort aus meinen Augen, ungebetener Gast! Ich musste deinetwegen Höllenangst ausstehen!« Aber Sulejmen rührte sich nicht vom Fleck, er konnte seinen Blick nicht von der schönen Buluk lassen. Dem Befehl des Vaters folgend, säuberte das Mädchen den Fisch. Als sie einen großen Aland aufschnitt, schrie sie vor Überraschung auf: In seinem Bauch fand sie einen goldenen Ring. Der Ring fiel ihr aus der Hand und rollte Sulejmen direkt vor die Füße. Er hob ihn auf und setzte ihn auf den Finger. Sogleich wurde er allmächtig und weise wie zuvor. »Ich bin der Khan Sulejmen!« sagte er freudig. »Buluk, willst du meine Gattin und Gebieterin der ganzen Welt sein?«

      So wurde Buluk die Frau des Khans. Nun schlief sie auf seidenen Kissen, aß von goldenem und silbernem Geschirr, kleidete sich in Samt und Brokat. Nichts war dem Khan für sie zu schade. Er vergaß alle Staatsgeschäfte und sann nur darauf, es seiner Frau recht zu machen. Eines Tages sagte er zu ihr: »Wenn du es wünschst, baue ich dir einen Palast aus Gold und Edelsteinen.«

      »Ich brauche keinen Palast aus Gold und Edelsteinen«, antwortete Buluk launisch und rollte die Augen. »Mein Gebieter, wenn du mich liebst, baue mir einen Palast aus Vogelknochen.« Da hieß der allmächtige Sulejmen alle Vögel der Erde herbeieilen und gebot ihnen, sich nach dem Wunsch der Khanfrau demütig dem Todesurteil zu fügen.

      In schwarzen Scharen, ohne Singen und Zwitschern, flogen die unglücklichen Vögel zu Sulejmens Palast, wo sie willfährig und ergeben ihr Schicksal erwarteten: So viel Macht besaß der Zauberring.

      Buluk zählte sie und sagte ärgerlich: »Mein Gebieter,