Andreas Model

Die schönsten Märchen aus Kasachstan


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sich um und rief freudig: »Das ist ja mein Heimataul!« Der Vater und die Mutter, die den Ausruf des Mädchens hörten, eilten herbei, umarmten und küssten ihre Tochter. »Wo bist du nur so lange gewesen, Altyn-kys? Was für ein Unglück ist dir zugestoßen. Töchterchen? Wem haben wir deine Rettung zu verdanken?« Das Mädchen erzählte alles und wies auf Sarsembai: »Da steht mein Retter!« Sarsembai schlug vor Scham die Augen nieder. Schmutzig, zerkratzt, barfuss, in zerrissenen Kleidern stand er da. Die Mutter und der Vater fassten ihn bei der Hand, führten ihn in die Jurte, zogen ihm das beste Gewand an und boten ihm den Ehrenplatz an. »Bleib bei uns, lieber Sarsembai, lebe von nun an immer mit uns! Wir wollen dich hegen und pflegen wie ein kleines Kind, werden dich ehren wie einen graubärtigen Greis.«

      Die Jahre vergingen. Sarsembai blieb in dem Aul und trennte sich nie von Altyn-kys. Arbeit und Rast, Kummer und Leid - alles teilten sie. Weit und breit fand sich kein Dshigit, der tapferer und würdiger war als Sarsembai; weit und breit fand sich kein Mädchen, das schöner und zärtlicher war als Altyn-kys. Es kam die Zeit, da sie erwachsen und volljährig wurden, heirateten und noch glücklicher waren. Bald schon wurde ihnen ein Sohn, der Stolz des Vaters und die Freude der Mutter, geboren.

      Einmal lag Sarsembai nach der Arbeit auf dem würzigen Steppengras, Altyn-kys saß daneben und beugte sich über ihn, den Sohn an der Brust. Sie lachte vor Glück. Und Sarsembai sagte fröhlich: »Nun hat sich jener schöne Traum, den ich in der Kindheit für eine Münze bei einem Kaufmann in der Karawanserei kaufte, erfüllt. Schaut her, Leute: Ich liege auf einem prunkvollen Ruhebett - auf dem geheiligten Boden meiner Heimat; die helle Sonne - du, meine geliebte Altyn-kys - neigt sich über mich; an der Brust spielt mein reiner Mond, unser lieber Sohn, unser Erstgeborener. Welcher Khan würde mich in diesem Augenblick nicht beneiden!«

      Sarsembai, der sich an seine traurige Kindheit erinnerte, wollte noch einmal die Lumpen sehen, in denen er einstmals den Bei verlassen, in denen er durch die Welt geirrt, in denen er in der Jurte der blutrünstigen Shalmauys-Kempir seine Altyn-kys getroffen hatte. Seine Frau brachte ihm den zerrissenen Wams. Sarsembai nahm ihn in die Hand und schüttelte nur mit dem Kopf: Ein Loch am anderen, ein Fetzen am anderen. Und zwischen den Löchern eine Tasche und nicht leer. Was war wohl darin? Sarsembai steckte die Hand hinein und holte eine Handvoll Sand heraus. Da erinnerte er sich an den Bettler, dem er auf dem Basar eine kleine Münze gegeben hatte, und ihm fiel das seltsame Geschenk des Alten ein. Seufzend verstreute er den Sand in den Wind. Der Wind verteilte die leichten Sandkörnchen in der ganzen Steppe. Und da standen auf einmal überall Schafherden, Pferdeherden und Kuhherden. Die Sandkörnchen verwandelten sich in mächtige Kamele, wilde Pferde, gute Milchkühe und dicke Hammel.

      Die Leute aus dem Aul fragten: »Wem gehören diese unzähligen Herden? Wem gehört dieser märchenhafte Reichtum?« Sarsembai antwortete: »Mir und euch gehören diese unzähligen Herden, mir und euch gehört dieser märchenhafte Reichtum.«

      Der Hellseher

      In einem Aul war einmal vor langen Zeiten ein armer Mann. All seine Habe bestand aus einer großen Fuchsmütze mit langen Ohrenklappen und einem Pferd. Die Mütze war zerschlissen, doch dafür hatte er ein Pferd, das seinesgleichen suchte. Die Sonne beneidete es um seine Kraft, der Wind beneidete es um seine Schnelligkeit.

      In einem anderen Aul lebten zwei Reiche - die älteren Brüder des Armen. Sie besaßen dreißig Pferdeherden, dreißig Schafherden, dreißig Jurten und Teppiche, Geschirr und Waffen im Übermaß. Aber all das brachte ihnen keine Freude. Sie konnten es nicht verwinden, dass der jüngere Bruder ein Pferd besaß, das seinesgleichen suchte, und sannen nur darüber nach, wie sie dem Pferd den Garaus machen könnten.

      Eines Tages setzte der Arme seine löchrige Fellmütze auf, sprang aufs Pferd und ritt zu den Brüdern. Als die ihn sahen, wandten sie ihm den Rücken zu, und ihre Gesichter wurden schwarz vor Zorn. Der Arme aber verneigte sich tief vor ihnen und sprach: »Brüder, die Armut ist über mich hereingebrochen, ich will mich als Knecht verdingen, das Pferd aber bindet mich. Könnt ihr es nicht bis zum Herbst in eurer Herde weiden lassen? Euch kostet das nichts, mir aber wird eine Sorge genommen. Im Herbst will ich euren Dienst lohnen.« Die Reichen warfen sich viel sagende Blicke zu, zwinkerten und antworteten dem Armen freundlich und einschmeichelnd: »Lieber Bruder, wir sind immer froh, wenn wir dir helfen können. Lasse dein Pferd bis zum Herbst in unserer Herde. Wir fordern nichts dafür.« Der Arme dankte den Brüdern, führte das Pferd zur Herde und kehrte zufrieden und fröhlich heim.

      Der Frühling ging vorüber, der Sommer begann. Der Arme arbeitete als Knecht und war guten Muts: Er war satt und sein Pferd gut aufgehoben. Eines Tages trat ein fremder Mann an ihn heran und erklärte, er wolle ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit eine wichtige Nachricht bringen. Der Arme folgte ihm, und als sie allein waren, gab sich der Fremde als Pferdehirt seiner Brüder zu erkennen und erzählte: »Etwas Furchtbares ist geschehen. Dein Pferd liegt in den letzten Zügen. Deine Brüder haben es zu Tode geritten, es wird wohl kaum noch drei Tage überleben. Ich erbarmte mich deiner und eilte her, um dir das zu sagen. Nur verrate mich nicht bei den Brüdern. Wirst du gefragt, wer dir die Wahrheit sagte, antworte: Ich bin Hellseher, weiß alles, was sich in der Welt tut.« Damit ging der Fremde fort. Der Arme weinte bittere Tränen und begab sich sogleich zu den Brüdern.

      Er traf sie unterwegs, beschimpfte und schmähte sie schluchzend: »Habt ihr denn kein Gewissen, dass ihr einem hilflosen Armen so viel Leid zufügt? Was habe ich euch Schlechtes getan, weshalb schindet ihr mein Pferd zu Tode?« Nun wussten die Reichen, dass der Arme alles erfahren hatte, und stritten alles ab. »Du hast anscheinend den Verstand verloren oder bist betrunken! Was faselst du? Dein Pferd lebt, ist gesund und weidet wohlbehalten in unseren Herden.« »Nein, Brüder«, sagte der Arme, »ihr hintergeht mich nicht, ihr habt mein Pferd zu Tode gehetzt, und es überlebt keine drei Tage mehr.«

      »Von wem weißt du das?« fragten die Reichen. »Von niemandem. Ich kann jetzt hellsehen und weiß alles, was sich in der Welt tut«, entgegnete er.

      Unterdessen hatte sich noch andere um die Brüder geschart und alle wollten wissen, worum der Streit ging. Der Arme wiederholte, was ihm der Pferdehirt gesagt hatte, die Menge strömte zu den Herden der Reichen, um sich zu vergewissern, ob er seine Brüder nicht verleumdet. Sie sahen, dass der Arme die Wahrheit sprach. Sein halbtotes Pferd lag schwer atmend auf dem Boden und hatte überall Wunden. Da forderte die entrüstete und drohende Menge, dass die Reichen dem Armen als Ersatz für sein Pferd zehn der besten Reitpferde geben sollen. Die Reichen mussten sich fügen. Fortan aber hassten sie den Bruder noch mehr, und sie lauerten nur auf eine Gelegenheit, ihn ins Verderben zu stürzen.

      Nun geschah es, dass dem Khan des Landes, in dem die Brüder lebten, ein unsäglich kostbarer Goldbarren gestohlen wurde. Der Khan ließ im ganzen Reich verkünden: Wer das Versteck des Goldes findet, erhält tausend fette Hammel und dreihundert Stuten. Als das den Reichen zu Ohren kam, eilten sie zum Khan und sprachen: »Oh, großer Khan, unser jüngerer Bruder gibt sich als Hellseher aus. Wir hörten, wie er sich vor seinen Freunden brüstete, er könne in einer Nacht den Dieb finden, nur will er dir nicht gefällig sein. Drohe ihm mit der Todesstrafe und im Morgengrauen hast du deinen Barren wieder.« Der Khan glaubte den Brüdern und befahl sogleich, den Armen zu holen.

      Als der Arme vor ihm stand, sagte der Khan: »Man sagt, du nennst dich Hellseher. Ich möchte wissen, ob du wahr sprichst. Wenn du im Morgengrauen den gestohlenen Barren gefunden hast, gebe ich dir außer dem Versprochenen obendrein eine Kamelkarawane. Wenn du meinen Befehl nicht erfüllst, lasse ich dich an den Schwanz eines wilden Pferdes binden und es mit dir in die Steppe jagen.« Der Arme ahnte, dass die Brüder dahinter steckten und antwortete dem Khan: »Oh, großmächtiger Khan, heiße deine Diener in der Steppe eine Jurte für mich aufstellen. Darin will ich übernachten, Beschwörungen aufsagen und vielleicht finde ich am Morgen dein Gold.« Im Stillen dachte er: Mögen sie erst einmal in der Steppe eine Jurte aufstellen, um Mitternacht stehle ich mich irgendwie davon.

      Dem Armen wurde also in der Steppe eine kostbare Jurte aufgebaut, in der er allein blieb. Um Mitternacht stülpte er sich die Fellmütze auf und schlich vorsichtig zum Ausgang. Da kam gerade der Dieb vorbei, der den Goldbarren des Khans gestohlen hatte. Er sah die kostbare Jurte und glaubte, dass hier etwas zu