Jürgen Heller

Was zu beweisen wäre


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gar nichts von ihrem Vater, jedenfalls äußerlich. Da, wo seine Tochter eine blonde, ziemlich wilde Mähne besitzt, glänzt bei Harry eine Glatze. Die paar Haare, die er noch hat, sind grau. Auch seine Figur und sein Gang sind weit von der Eleganz entfernt, die Tina so gekonnt auf das Parkett bringt. Gegen Harry fühlt sich Bruno schlank und dynamisch, jetzt nach dem dritten Glas mindestens 10 Jahre jünger.

      * * *

       Freitag, 12. April 1955

       War über Ostern bei meinen Eltern in Brixen. Als ich heute morgen zurückkam lag auf dem Tisch meines Zimmers ein Brief, Absender Prof. R.v.C. Er hat mit einem ehemaligen wissenschaftlichen Mitarbeiter, dessen Doktorvater er war, gesprochen.

       Dr. Rohrmann ist inzwischen Assistent der Geschäftsleitung der Kallmeyer AG und wird mir helfen. Ich solle mich gedulden und unbedingt in den Alpenverein eintreten. Dort würde ich weitere wichtige Leute kennen lernen, insbesondere in der Sektion Oberland.

       Ich werde am Wochenende mit ein paar Freunden ins Wipptal fahren. Wollen dort ein wenig wandern und das schöne Wetter genießen. Ich hoffe, dass mich das ein wenig von meiner Situation ablenkt. Die Ungewissheit ist fast unerträglich und diese Menschen, die helfen sollen, sind mir mit ihrer Vergangenheit ein Gräuel. Wäre ich doch bloß schon angenommen. Mein Vater hat mir erzählt, dass gerade im deutsch-österreichischen Alpenverein sehr früh nationalistische und judenfeindliche Kräfte das Sagen hatten. Mich interessiert das nicht besonders. Ich fürchte nur, dass sich in der heutigen Zeit solcherlei Beziehungen eher negativ auswirken. Aber ich bin auf Unterstützung angewiesen. Nächste Woche werde ich Dr. Rohrmann direkt aufsuchen, er ist noch sehr jung und wird keine Nazivergangenheit haben.

      * * *

      6

      Bruno Hallstein ist den Weg nach Hause zu Fuß gegangen. Jetzt steigt er die zwei Treppen zu seiner Wohnung hoch und ist etwas erstaunt, noch so fit zu sein. Was so ein Spaziergang doch ausmacht. Die Gedanken kreisen noch immer um das junge Mädchen, um Tina. Wie doch die jungen Dinger heranwachsen. Ratzfatz und man ist alt. Der Lack ist ab, wie sein Vater zu sagen pflegte. Noch gar nicht so lange her, da gehörte er selber zu den Jugendlichen, und so ein Mädchen wie Tina hätte er sofort angebaggert.

       Die hätte gar keine Chance gehabt, mir zu entgehen - oder so gut wie keine.

      Irgendwie weiß er aber auch, solche jungen Frauen wie heute, gab es zu seiner Zeit nicht, zumindest hatte er sie nicht kennen gelernt. Die sind heute viel freier, nicht so verklemmt. Sie tragen sich so selbstbewusst zur Schau, ohne dabei billig zu wirken und genau das ist es, was ihn irritiert.

       Denk mal nur an das junge Mädchen mit dem Handy, heute in der U-Bahn.

      Wenn zu seiner Zeit Mädchen so aufgetreten sind, war das Urteil schnell zur Hand: Nutte!

       Wie bekloppt waren wir eigentlich mit achtzehn oder zwanzig? Wahrscheinlich hätte ich mich an so eine wie Tina gar nicht rangetraut...

      Vier Viertel Spätburgunder haben ihn in eine eigenartige Stimmung versetzt, halb Melancholie, halb "Jetzt geht 's los", sozusagen Hybridstimmung. Er kramt in seiner CD-Sammlung und entscheidet sich für Hubert von Goisern und seine Alpinkatzen.

      In der Küche steht noch eine angefangene Flasche Chianti aber sein Blick fällt auf die neue Kaffeemaschine, die er sich erst zu Weihnachten zugelegt hat. Ein echt italienisches Exemplar, sündhaft teuer und für seinen Einpersonenhaushalt völlig überdimensioniert. Aber das ist ihm vor dem schnöseligen Verkäufer scheißegal gewesen. Er stellt eine Tasse zurecht, drückt die Taste für doppelten Espresso und wartet die fauchende Produktion seines Lieblingskaffees ab.

      Hubert und Sabine tragen gerade das traurig schöne "Weit, weit weg von dir" vor und Bruno versinkt in sehnsuchtsvolle Gedanken. Carla wird schon wissen, was sie tut. Wenn sie ihn nicht will - nun, es gibt andere Frauen. Wenn er bloß ein paar Jahre jünger wäre, nur ein paar. Er singt leise mit "heast das nit, wia die Zeit vergeht?" Das mit den Jodeleinlagen lässt er sicherheitshalber weg. "Die Jungen san alt gworn und die Alten san gstorbn..."

      Er entscheidet sich für den Rest Chianti und dabei kommt ihm die Idee. Seine "beste Freundin" Anna anmailen und fragen, ob sie für die nächsten 10 Tage noch ein Zimmer frei hat. Skifahren wäre jetzt das einzig wahre. Sein PC ist tagsüber immer im Stand-by-Modus, da ihn das lange Hochfahren nervt. Bis der Virenscanner seinen Job erledigt hat, vergehen Ewigkeiten und ehe dann alle Dienste gestartet sind und die komplette Graphik aufgebaut ist, dauert es noch mal. Er sollte sich vielleicht auch mal was neues zulegen. Seit er sein Ingenieurbüro aufgegeben hat, hat er nicht wieder in Hardware investiert. Dabei gibt es jetzt so schicke superflache Notebooks im Aluminiumgehäuse...

       [email protected]

       Liebe Anna,

       lange nichts von Dir gehört. Muss Dich unbedingt sehen und träume von einer Skitour. Wenn Du für Deinen lieben Bruno ein Zimmer für 10 bis 12 Tage frei hast, melde Dich bitte. Ich fange schon mal an zu packen.

       Bis bald

       Bruno

      Er hat es endlich geschafft, keine Schreibfehler mehr und ab geht sie, die mail. Er ist fast euphorisch und trinkt den Rest Chianti genüsslich aus. Beim Blick auf die Uhr wird im allerdings klar, dass er heute mit keiner Antwort mehr rechnen kann. Um die Zeit schläft Anna ihren Schönheitsschlaf.

       Au Backe, schon nach 12, ich werde jetzt auch mal in die Koje, packen kann ich morgen früh.

      Der Rufton ist brutal und holt ihn aus dem Tiefschlaf. Es ist das erste Mal, seit er ein Telefon am Bett zu stehen hat, dass ihn jemand während der Nachtzeit anruft. Grund genug, das Ding wieder aus dem Schlafzimmer zu verbannen oder wenigstens einen anderen Klingelton zu wählen, auch viel, viel leiser. Was kann denn schon so wichtig sein? Fehlt nur noch: verwählt! Er grunzt mehr als dass er spricht.

      "Hallstein, kurz nach Mitternacht!"

      "Hallo Bruno, entschuldige den späten Anruf, aber ich habe tierische Angst. Ich glaube, dass meine Eltern verunglückt sind. Leni hat gerade angerufen und gesagt, dass die Bergrettung die Suche abgebrochen hat. Du kennst doch Leni, erinnerst du dich? Ich muss sofort – "

      Bruno versteht nichts, ist noch gar nicht richtig da. Das einzige, was er geschnallt hat ist, dass Carla am anderen Ende ziemlich aufgeregt alles auf einmal mitteilen will. Er bittet sie, der Reihe nach zu erzählen, vor allen Dingen, sich erst einmal zu beruhigen. Sie ist augenblicklich still. Auf seine Frage, was denn nun eigentlich passiert sei, antwortet sie nicht gleich. Er merkt, dass sie weint. Offensichtlich ist sie völlig von der Rolle. Nach fünf Minuten hat er aber so viel erfahren:

      1 Carlas Eltern waren heute auf einer Wanderung unterwegs, angeblich am Stubaier Gletscher. Ob das stimmt, weiß aber keiner so genau.

      2 Sie sind nicht zum Abendessen erschienen, ein für sie unnormales Verhalten. Ohne vorher Bescheid zu sagen, würden sie niemals wegbleiben.

      3 Sie sind den ganzen Tag offensichtlich nirgendwo eingekehrt. Man hat überall angerufen, niemand konnte sich an sie erinnern.

      4 Die Bergwacht wurde abends um 21:00 Uhr alarmiert, nachdem man immer noch nichts von ihnen gehört hatte.

      5 Um 23:00 Uhr hat man die Suche abgebrochen. Es war in der Dunkelheit viel zu gefährlich und nicht effektiv. Man will morgen früh sofort den Hubschrauber einsetzen.

      6 Kein Erfolg beim Telefonieren. Carlas Vater hat entweder sein Handy ausgeschaltet oder der Akku ist leer. Auf jeden Fall meldet sich sofort die Mailbox.

      "Bruno, ich muss sofort dorthin. Sei mir nicht böse, wegen morgen. Aber das geht jetzt vor. Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl, es ist bestimmt etwas Schreckliches passiert."

      "Carla