Manuela Dörr

Sprachlos studieren - Mein Auslandssemester in Lateinamerika, Costa Rica


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mir sitzt ein älterer Herr, gänzlich gelassen; unsere Blicke streifen sich bevor sie sich treffen. Auch er wartet auf einen Stempel.

      Bei Visumsangelegenheiten kommt man ins Gespräch und plötzlich lernt man jemanden kennen, der für ein mittelständiges Unternehmen Filteranlagen durch die Welt schippern lässt. Die Aufgabe meines Gesprächspartners ist es, die Stempel zu besorgen und den anderen die lästige Arbeit vom Hals zu halten. Ob er das auch für überforderte angehende Austauschstudenten macht?

      Die große Glastür am anderen Ende des Raumes öffnet sich, eine Dame erscheint mit meinem Zeugnis, das nun an ein zweites Blatt geheftet ist und ein weiteres Autogramm trägt. Ob das die Apostille ist? Ich frage sicherheitshalber nach.

      „Ja, das macht dreizehn Euro“, verkündet sie. Während ich zahle, vollführe ich innerlich einen Freudentanz, über der edlen Couch verzaubern Scheinwerfer in bunten Farben den Raum und Salsa-Musik sprudelt aus dem Ansagelautsprecher der Empfangsdame. Die Realität sieht anders aus, lediglich ein Sonnenstrahl verirrt sich durch die Jalousien und verfehlt nur knapp die kostbare Urkunde in meinen Händen.

      Tadaaa, die Apostille! Sogar günstiger als das Bahnticket!

      Der Mann auf der Couch nickt mir zu, er muss noch warten. Ich drückte die schwere Tür des Köllner Verwaltungsamtes auf und trete hinaus. Wenn sich keine Wolken vor die Sonne geschoben hätten, hätte mir diese sicherlich hemmungslos ins Gesicht geschienen. Zeit, den Heimweg anzutreten und morgen beim Praktikum Vollgas zu geben.

      Während ich mich von der Bahn in die Polster schaukeln lasse, betrachte ich die Landschaft durch das einen Quadratmeter große Fenster. Am besten sollte sich der Zug direkt in die Lüfte heben und mich in die Hitze Lateinamerikas tragen. Die Landschaft aus kugeligen laublosen Kastanienbäumen würde sich in Streifen verwandeln, wir würden die Wolkendecke durchbrechen und dem blauen Weltall entgegen sausen.

      Bis Costa Rica.

      Die Menschen haben Kopfhörer im Ohr, schauen auf ihr Handy, auf die Uhr, aus dem Fenster. Einige dösen und der Kopf schaukelt im Takt der Bewegung. Von links nach rechts bei einer Kurve, sonst vor und zurück. Es rattert, quietscht und zischt, als sich die Bahn in die Kurve schmeißt und der Regen gegen die Scheibe klatscht. Dann kommt sie langsam zum Stehen. Hier muss ich raus.

      Das Blinken des roten Lichtes wird von einem monotonen Piepen verfolgt und die Tür vor mir schiebt sich zur Seite. Es bildet sich eine Luke, dann ein Tor nach draußen, durch das kühle Luft ins Innere strömt und ich kann es gar nicht erwarten, loszugehen, hängt von diesem Besuch doch so viel ab. Mein rechter Fuß steigt zuerst über den kleinen, aber tiefen Spalt, der den grauen PVC-Fußboden vom Bahnsteig trennt. Gleich hat der Visumsspuk ein Ende!

      Die leicht erhobenen Linien der steinigen Gehwegplatten leiten mich zum Ausgang der S-Bahnstation Blankenese, als ich die Hitze aus meiner dicken goldgelben Daunenjacke befreie und die warme Luft wie ein Schwarm winziger Insekten in die Höhe steigt. Im Gehen ziehe ich den Stadtplan aus meiner Tasche und werfe noch einen Blick auf die scheinbar vollständigen Unterlagen, dann bahne ich mir den Weg zum Konsulat.

      Bald werde ich mich hoffentlich auf den Weg machen, vorbei an amerikanischen Passkontrollen, direkt ins Herz Mittelamerikas, nach Costa Rica. In das Land, das mit giftgrünen Fröschen, babyblau bemalten Saftständen und Abertausenden von tropischen Bäumen, die mit prallen Früchten behangen sind, in meinem Spanischlehrbuch präsentiert wurde. Das Paradies aller Tiere, vielleicht auch das der Menschen. Ein kleines Land von etwa fünfzigtausend Quadratkilometern Fläche mit fast viereinhalb Millionen Einwohnern. Costa Rica hat nur zweieinhalb mal so viele Einwohner wie Hamburg.

       Meine linke Hand umklammert die schwarze Ledertasche, deren Reißverschlüsse ich sorgfältig wieder geschlossen hatte, nachdem ich kurz vor dem Verlassen der Bahn abermals alle Dokumente kontrolliert hatte. Gleich würde ich auch den letzten Stempel für das Visum erhalten. Hoffentlich… Als ich vorhin meinen Reisepass betrachtete, nahm ich auch das blaue Papieretui in die Hand, in dem ich meine Passfotos aufbewahre. Ich lächelte mir selbst aus meiner Hand entgegen. Ob ich wohl einen Stempel auf den Kopf bekomme? Egal, Hauptsache ich bekomme einen Stempel.

      Juan läuft vorbei, in der Hand hält er eine geschnittene Limone und zwei Tassen schwarzen Tee. Er stellt eine vor mir auf dem Couchtisch ab und gesellt sich zu mir.

      „Was zur Hölle machst du da?“, er mustert erst meine Papiere, dann mich. Anscheinend bin ich doch viel klischeedeutscher, als ich gedacht hatte. Der Mitarbeiter des Hostels begleitet mich in seiner Freizeit zu Wohnungsbesichtigungen und hilft mir bei spanischen Telefonaten. Jetzt beobachtet er meine Sortieraktion.

      „Visumszeug. Was ist ‚Contador’?“, eine Strähne kitzelt mich im Gesicht, ich puste sie zu Seite.

      „Das ist jemand, der Stempel auf Unterlagen setzt und sie beglaubigt“, antwortet Juan und schiebt seine Brille zurecht. Er wohnt genau so lange im Hostel Urbano wie ich, nur mit dem Unterschied, dass er mindestens ein Jahrzehnt älter ist und hier ein halbes Jahr gegen Logis morgens das Frühstück für die Backpacker zubereiten und die Betten der Schlafsäle frisch bezieht.

      Als ich mich für den Tee bedanke, fällt die Strähne zurück. Ich klemme sie nun im Haargummi fest und schnappe mir die grüne Halbkugel, die ich über der braunen Flüssigkeit zerdrücke. An der Tasse nippend lehne ich mich zurück.

      „Gut, dass ich sowas als Argentinier nicht machen muss“, bemerkt er und macht es sich ebenfalls auf dem Sessel bequem, indem er bis zur Rückenlehne rutscht und dann die Arme von sich streckt.

      „Was meinst du?“

      „Na, das Visumszeugs da. Ich hab sowas noch nie gemacht. Meine ganzen fünf Reisejahre nicht. Bin eben immer unterwegs.“

      „Du Glücklicher!“, ich beuge mich wieder vor und betrachte die Zettel und die auf ihnen markierten Fremdwörter. Ich habe alles eingefärbt, was ich noch nachschlagen sollte. Das Resultat ist ein fast komplett gelber Text. Mir raucht bereits der Kopf, durch den Tee wird er nicht abkühlen. Ich schiebe Zettel hin und her und verliere ein wenig den Überblick. Ich bilde Stapel. Ein Aktenordner, das wäre eine Lösung meines Sortierproblems und die Krönung des Deutschseins. Effektivität steht im Zentrum. Vermutlich werde ich für die Behördengänge ein Buch zum Lesen in der Wartezeit mitnehmen. Vermutlich werde ich die Zeit sinnvoll nutzen. Ich plane.

      „Ich… I ääähhh, I like… Dorm?!“, hören wir die Stimme einer jungen Frau aus dem Eingangsbereich.

      „Ich muss runter“, erklärt Juan, streicht sich mit der flachen Hand über den Kopf, als ob er die Haare auf seiner Halbglatze richten müsste und springt auf. Sprachlosen Reisenden unter die Arme greifen, ihnen ihren Tag retten und sich selbst ein Lächeln garantieren, so ist er. Ob er auch einen Ordner mit allen seinen Unterlagen besitzt?

      „Nimm bloß keine große Tasche mit auf die Straße“, beschwört mich ein blonder Backpacker, als ich meinen Rucksack packe, um zum großen Bürogeschäft in der Nähe zu gehen, „wer so aussieht, als ob er viel besitzt, der wird überfallen!“

      „Du wirst dann sofort überfallen“, hatte auch Hannah damals sorgenvoll für mich recherchiert. Ich verlasse das Hostel und beginne, meinen Rucksack an mich zu klammern. Natürlich habe ich meine Kamera dabei, aller Gefahr zum Trotz. Ein gutes Foto kommt, wenn es kommen will. Dann kein Foto machen zu können, das halte ich nicht aus. Mir bleibt keine Wahl. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich für meine Umgebung sehr reich aussehe. Unsicher gehe ich schnellen Schrittes auf dem Bürgersteig neben der befahrenen Straße. Ein LKW rauscht vorbei und hinterlässt eine riesige Wolke aus Abgasen, ein paar Jungs pfeifen mir nach, gefolgt von einem „Bonita!“ und „Hermosa!“ Ansonsten folgen alle ihrem Weg zum Bus, nach Hause oder zur Mall. Keiner bedrängt mich. Ich gehe einfach an dieser Straße entlang, als wäre es das Normalste der Welt.

      Im Eingangsbereich des modernen Bürowarengeschäftes stehen drei Männer. Sie tragen weiße Hemden und schwarze Hosen und nicken mir zur Begrüßung freundlich zu.

      „Muchacha, por favor!“, ertönt es hinter mir, als ich zielstrebig in das Innere der Halle gehen