Carlo Fehn

Der Radspitz-Killer


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geschimpft und ihm Fragen gestellt. Gefragt, warum er die Menschen so leiden ließ. Es war Samstag, der 13. August 1960. Beim Grabmal in der Wirtschaft stand Pfarrer Wenzel – es war schon spät am Abend – plötzlich auf und schrie in den Saal: Verflucht! Verflucht noch eins!«

      Pytlik bemerkte, wie an den Nebentischen der Eine oder die Andere kurz zuckte.

      »Der Pfarrer erzählte von einem Traum, den er in der vorherigen Nacht gehabt hatte. Eine Art Erscheinung! Was genau, weiß ich heute nicht mehr! Auf jeden Fall war er fest entschlossen, hier zur Kapelle hochzulaufen, eine Bittandacht zu halten und für jeden Einwohner Seibelsdorfs und symbolisch für alle anderen Menschen, die unter der Dürre litten, eine Kerze anzuzünden. Innerhalb weniger Minuten standen draußen vor dem Wirtshaus die wichtigsten Bauern und der Pfarrer. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen. Bepackt mit Rucksäcken voller Kerzen und etwas Proviant für den Marsch hinauf machten sie sich auf den Weg.«

      Hölzer unterbrach und musste zynisch lachen.

      »Mein Gott!«, sagte er. »Ist das nicht verrückt?«

      Pytlik schaute Martina an, sie ihn.

      »Sie wissen tatsächlich nichts davon, oder?«, fragte Hölzer nach. Die Beiden schüttelten gespannt die Köpfe.

      »Die Männer sind losmarschiert, mit Fackeln und zügigen Schrittes. Entschlossen, mit einem Zeichen für ihren Herrgott die Leidenszeit zu beenden. Sie waren kaum außer Sichtweite – ich erinnere mich daran noch ganz genau –, da hörte man schon leichtes Donnergrollen. Stellen Sie sich mal vor: Monatelang kein Regen, nicht mal Gewitter hat es gegeben! Und dann…! Als die Männer oben an der Kapelle angekommen waren, hat es Pfarrer Wenzel wohl nicht einmal mehr geschafft, auch nur eine Kerze anzuzünden. Ein Blitz muss mit unglaublicher Wucht eingeschlagen haben. Ich habe den grellen Lichtschweif, der wie ein teuflisches Schwert in den Berg eintauchte, immer noch vor Augen.«

      Hölzers Blick war leer, er unterbrach seine Erzählung.

      »Wie viele?«, fragte Pytlik trocken, in dessen Stimme man die Ehrfurcht hören konnte. Martina traute sich kaum zu atmen.

      »Der Pfarrer und fünf Bauern waren sofort tot. Zwei weitere starben Tage später; nur fünf Männer überlebten mit lebensgefährlichen Verletzungen. Nichts war von da an mehr wie vorher in Seibelsdorf. Das Wetter schlug ab dem nächsten Tag um. Als die Männer beerdigt wurden, schüttete es wie aus Kübeln.«

      Am Tisch war es nun ruhig. Hölzer stopfte die Pfeife neu, Pytlik schnaufte einmal tief durch, und Martina quittierte die Geschichte mit Bedauern.

      »Und seitdem gibt es jedes Jahr am ersten Samstag nach dem 13. im August zu Ehren dieser tapferen Männer eine Gedenkprozession – heuer zum fünfzigsten Mal. Deswegen wird alles auch ein bisschen größer gefeiert als sonst. Sie sehen es ja!«

      Dann stand Gerhard Hölzer unvermittelt auf. So als hätte ihn die Erzählung aufgewühlt, fragte er fast etwas emotionslos, ob die Beiden noch etwas trinken wollten.

      »Ich nehme noch ein Weizen. Und du?«

      Martina nickte. Hölzer wusste somit Bescheid und ging in die Gaststube.

      ***

      Die Sonne konnte sich nur noch schwach über den Baumwipfeln halten. Pytlik genoss die Momente mit der Frau, von der er nicht erwartet hätte, dass sie sich so zwanglos und unverbindlich auf eine Fernbeziehung mit ihm eingelassen hatte. Der Biergarten war immer noch gut besucht, und die Vorbereitungen für den nächsten Tag schienen so langsam beendet zu werden. Der Hauptkommissar warf noch einen Blick hinüber auf die Kapelle, der man nicht ansehen konnte, dass sie vor genau fünfzig Jahren komplett zerstört worden war.

      »Was überlegst du?«, fragte Martina ihn.

      Pytlik hatte die Arme verschränkt und sich gemütlich zurückgelehnt.

      »Das ist schon eine unglaubliche Geschichte! Findest du nicht? Gerade, wenn die noch jemand erzählt, der das alles als kleiner Junge hautnah miterlebt hat.«

      Dann hielt der Hauptkommissar zunächst kurz inne. Gerhard Hölzer brachte die Getränke an den Tisch und legte die Speisekarte daneben.

      »Kein einziges Jahr hat es bisher am Tag der Wenzel-Prozession geregnet. Das hatte ich noch vergessen zu erwähnen.«

      Der Wirt schaute Pytlik und Martina dabei an und zwinkerte mit einem Auge. Beide schmunzelten, und Pytlik hatte anschließend noch eine Frage.

      »Kann eigentlich jeder mitlaufen und wann geht es morgen los?«

      ***

      Der Hauptkommissar und seine Liebste hatten sich von der Küche verwöhnen lassen. Nach einem weiteren Bier und netten Gesprächen mit anderen Besuchern war die Zeit fast unbemerkt deutlich fortgeschritten. Die Dämmerung ging bereits in Dunkelheit über, aber Pytlik und Martina war das egal. Der Wirt schaute sich noch einmal nach ihnen um, während die Vorbereitungen für die Prozession am nächsten Tag abgeschlossen wurden.

      »Na, wie sieht’s aus? Gefällt’s euch hier bei uns, oder? Es ist schon dunkel. Wenn ihr ins Tal laufen wollt, holt euch drinnen bei meiner Frau doch zwei Taschenlampen, falls ihr selbst keine dabeihabt. Ansonsten sind noch genügend Mitfahrgelegenheiten hier. Fragt einfach! Ich muss noch mal weg. Wir sehen uns dann morgen? Das hatte ich doch richtig verstanden?«

      Pytlik zeigte mit dem Daumen nach oben. Martina lag an seinen Oberkörper angelehnt und nickte ebenfalls.

      »Fünfzig Jahre Wenzel-Prozession! Da müssen wir dabei sein!«, sagte Pytlik, dem man die Unbeschwertheit in Verbindung mit dem Gerstensaft schon etwas anmerkte.

      »Schön!«, zeigte sich Hölzer erfreut.

      »Um 21 Uhr ist Abmarsch am Dorfplatz. Seid pünktlich und bringt nach Möglichkeit Fackeln mit. Falls ihr überlegt, morgen drüben in der Halle übernachten zu wollen: Wir haben genügend Decken hier! Also dann bis morgen! Kommt gut nach Hause!«

      Pytlik und Martina erwiderten die Verabschiedung.

      ***

      »Vorsicht! Nicht, dass uns noch jemand über den Haufen fährt!«

      Sie hatten sich entschieden, Hölzers Frau um die angebotenen Taschenlampen zu bitten und den Weg hinunter zum Parkplatz zu Fuß zurückzulegen. Ein paar Mal mussten sie Autos, die nach unten fuhren, passieren lassen. Der Hauptkommissar war deutlich angetrunken und Martina etwas genervt von ihm.

      »Franz, bitte! Hör auf! Was soll das jetzt? Lass die Fummelei! Willst du jetzt hier mit mir in die Büsche? Also wirklich!«

      »Wieso nicht?«, lechzte Pytlik mit kindischem Unterton in seiner Stimme. Und dann war es auch schon passiert! In einem Augenblick der Unachtsamkeit geriet er zu nahe an den Wegesrand und machte daraufhin einen Schritt ins Leere.

      »Franz!«, schrie Martina erschrocken, und das Nächste, das sie hörte, waren Flüche und Stöhnen des Hauptkommissars. Mit ihrer Lampe leuchtete sie auf den Körper, der etwa drei Meter weiter unten von einem Gebüsch gestoppt worden war.

      »Alles gut!«, beruhigte er sie sogleich. Der Spaß war ihm vergangen.

      »Hast du dich verletzt? Mann! Was für eine Kacke!«

      Nach einer kurzen Ruhepause meldete sich Pytlik wieder.

      »Oh, du kannst ja richtig schimpfen!«

      »Bist du in Ordnung? Kommst du da alleine wieder hoch? Ich finde das jetzt nicht mehr lustig!«

      »Alles gut! Unverletzt – zumindest scheint nichts gebrochen. Ich komme jetzt wieder hoch!«

      Als Pytlik wieder festen Boden auf dem Schotterweg unter den Füßen hatte, nahm er Martina fest in die Arme und entschuldigte sich bei ihr.

      »Lass uns jetzt gehen! Ich möchte nach Hause«, sagte sie trocken, und Pytlik konnte das Missfallen in ihrer Stimme nicht überhören. Sie nahm seine Hand und drückte sie ganz fest. Pytlik versuchte, sie zu beruhigen.

      »Keine Angst!