heruntergekommen. Die Schritte der beiden auf dem Weg huschten synchron in die dunkle Nacht. Plötzlich zuckte Martina heftig zusammen und klammerte sich mit beiden Armen an seinen Oberkörper, nachdem sie einen spitzen Schrei ausgestoßen hatte. Auch Pytlik musste sich eingestehen, dass ihn das Geräusch nicht nur erschreckt hatte. Er war auch etwas irritiert.
»Keine Angst! Nur eine Kettensäge!«, konnte er Martina nicht wirklich davon überzeugen, dass dies normal war.
»Nur eine Kettensäge?«
Ihre Angst war in Wut umgeschlagen. Pytlik meinte, sie zittern zu spüren.
»Wenzel-Prozession, Dürre und Blitzeinschlag! Zig Tote! Mir scheint, du ziehst Mord und Unheil regelrecht an, Franz! Und jetzt noch eine Kettensäge mitten in der Nacht! Wie spät haben wir denn? Ist das im Frankenwald so üblich, dass die Menschen erst nachts aus ihren Löchern kommen und das Arbeiten beginnen?«
Pytlik wusste nicht so recht mit dem Vorwurf umzugehen; er wollte die Situation aber nicht noch unnötig befeuern.
»Im Vergleich zu euch in NRW arbeiten manche Menschen hier eben auch manchmal bis in die Dunkelheit, meine Liebe!«
Für einen Moment war Totenstille.
»Es war nicht so gemeint! Entschuldige!«
Sie leuchtete mit der Taschenlampe auf seinen Oberkörper und küsste ihn dann.
»Ich habe mich nur erschro…!«
Wieder klammerte sie sich an Pytlik fest, diesmal heftiger. Erneut war für einige Sekunden das Geräusch einer Säge zu hören, die sich mühsam abzuquälen schien. Dann wieder Ruhe. Pytlik und Martina gingen weiter. Noch einige Male hörten sie in regelmäßigen Abständen und dann jeweils für einige Sekunden das unheimlich durch den Wald hallende Geräusch.
***
Samstag, 14. August 2010
Pytlik hatte das Auto diesmal in der Nähe des Seibelsdorfer Sportplatzes geparkt, zu groß war der Andrang im Ort. Es war kurz vor 21 Uhr, und zusammen mit Martina machte er sich auf den Weg zum Dorfplatz. Nachdem es am Vorabend noch so ausgesehen hatte, dass seiner Freundin der Abstieg von der Radspitze hinunter zum Parkplatz in der Dunkelheit nicht unbedingt Freude bereitet hatte, war er umso überraschter, dass sie seine spontane Entscheidung, an der Wenzel-Prozession teilnehmen zu wollen, ohne jegliche Diskussion befürwortet hatte. Vielleicht lag es auch daran, dachte er sich, dass Martina schon am nächsten Tag wieder abreisen musste, weil sie bereits für die nächste Woche Termine in ganz Deutschland angenommen hatte. Dem Hauptkommissar kam es vor, als wäre die gemeinsame Woche mit ihr wie im Flug vergangen. Umso glücklicher war er jetzt, dass er mit ihr zusammen noch einen gemeinsamen Abend verbringen konnte, auf den beide gespannt waren.
»Das gibt es doch nicht!«, entfuhr es Martina, als sie sich dem Startpunkt für die Prozession näherten. Es waren wohl, so schätzte der Hauptkommissar, als auch er die bereits wartende Menge sah, um die 300 Menschen, die in einer Mischung aus freudiger Erwartung und Aufregung einen deutlich hörbaren, aber nicht unangenehmen Lärmpegel erzeugten.
Etwas abseits blieben beide zunächst einmal stehen, um sich zu orientieren und einen Überblick zu verschaffen. Pytlik ließ seine Augen ringsum wandern, um zu überprüfen, ob möglicherweise Bekannte von ihm auch hier waren.
»Na, irgendwelche Verflossenen von dir?«, fragte Martina neckisch, während sie den Hauptkommissar beobachtete. Der ließ aber nur ein müdes Lächeln folgen, bevor er verneinte.
»Also, was ich so sehen kann, scheint das hier wirklich eine Art Insiderveranstaltung zu sein.«
»Nur weil du niemanden kennst?«
Nachdem Pytlik und Martina sich noch ein wenig durch die Menschenmenge gekämpft hatten, trafen sie ein Pärchen, mit dem sie am Abend vorher in der Radspitz-Klause ins Gespräch gekommen waren. Man begrüßte sich gegenseitig freundlich und hielt ein bisschen Smalltalk, bevor Schlag 21 Uhr die Kirchturmglocken in voller Lautstärke ertönten und sich binnen weniger Sekunden der Prozessionszug in Marsch setzte.
Pytlik hatte sehr schnell das Gefühl, dass die sogenannte Wenzel-Prozession tatsächlich wohl eine Art gemeinsame Wanderung war. Auch wenn er den Hintergrund kannte und vorneweg auch der örtliche Pfarrer mit einem Mikrofon in der Hand in regelmäßigen Abständen Psalmen und Lieder anstimmte, war doch das zu spüren, was Gerhard Hölzer, der Eigentümer der Radspitz-Klause angedeutet hatte. Es war einfach nur ein besonderes Event und am Ende freuten sich alle auf Bratwürste, Steaks und Bier.
»So, jetzt ist es gleich so weit!«, sagte Harald zu Pytlik und Martina, nachdem er wusste, dass die beiden zum ersten Mal an der Prozession teilnahmen und sie schon ein paar Minuten unterwegs waren. Der Hauptkommissar und seine Freundin schauten sich gegenseitig verdutzt an.
»Was genau?«, war Martina neugierig. Haralds Frau deutete mit dem ausgestreckten Arm nach vorne auf die Informationstafel, auf der die Wanderwege rund um die Radspitze eingezeichnet waren.
»Das hat sich irgendwann so eingebürgert und ist dann auch zur Tradition geworden. Wenn man an dieser Stelle vorbeiläuft, zündet man seine Fackel an. Sozusagen weil man dann in die Dunkelheit des Berges eintaucht und als Erinnerung daran, dass die Leute aus dem Dorf vor fünfzig Jahren die Fackeln der tapferen Männer hier zum letzten Mal gesehen haben, bevor sie in den Wald nach oben gelaufen sind.«
Auch wenn Pytlik hinsichtlich des Gedenkens an Pfarrer Wenzel und seine mutigen Bauern aus Seibelsdorf keine besonderen Emotionen spürte, so fühlte er sich doch während der Wanderung auf die Radspitze als ein Teil dieser Gemeinschaft. Es machte ihn glücklich, auch weil er Martina an seiner Seite hatte, die ihm ebenfalls den Eindruck vermittelte, Spaß zu haben. Der Hauptkommissar erzählte unterwegs – als er meinte, gerade die entsprechende Stelle zu passieren – auch von seinem Missgeschick am Vorabend.
»Warte! Das muss ich erzählen!«, unterbrach ihn Martina und konnte sich ein herzhaftes Lachen dabei nicht verkneifen. In der Wandergruppe wurde angeregt geplauscht und hier oder da hatte man auch schon Wegzehrung in Form von Wein oder Spirituosen in den Händen.
»Also«, begann Martina, »er hatte ja schon einiges getankt. Das habt ihr sicher auch gemerkt, als wir gegangen sind. Er hat sich dann ein bisschen zu sehr für mich interessiert anstatt auf seinen Weg zu achten. Und plötzlich…«
»Jetzt sag’ bloß…!«, meinte Ursula, Haralds Frau, zu wissen, was jetzt kommen würde.
»Glaubt ihr kein Wort!«, versuchte Pytlik, Martinas Erzählungen ins Reich der Fabel zu verweisen. Alle vier lachten.
»Ihr könnt euch ja vorstellen, wie mir der Schrecken in die Glieder gefahren ist«, wurde Martina als Erste wieder ernst. Dann fuhr sie fort.
»Ich sage mal: Wenn jetzt hier vielleicht jemand in der Gruppe...«
»... na klar! Aber ihr wart ja alleine!«, grätschte Ursula dazwischen. »Und dann?«
»Lass sie doch mal erzählen, Mensch!«, war Harald ungeduldig und rügte seine Frau.
»Ich war wütend, das kann ich euch sagen! Ich habe innerlich gekocht und mir nur gedacht: Scheiße, was, wenn er sich jetzt vielleicht was gebrochen hat?«
»Habe ich aber nicht, wie man sehen kann!«, sagte Pytlik trocken.
»Naja«, kürzte Martina das Ganze ab, »langer Rede kurzer Sinn: Er hatte Glück im Unglück! Aber als wir dann auch noch – ich war ja eh schon oben durch – in der tiefsten Nacht plötzlich das Geräusch einer Kettensäge aus dem Wald hörten, da war es bei mir aus! Hätte mir da jemand gesagt, dass ich heute schon wieder da hinauflaufen würde, hätte ich ihm mal ganz schön den Vogel gezeigt.«
Pytlik, Harald und Ursula lachten. Der Lehrer, der gebürtiger Seibelsdorfer war und jedes Jahr zur Prozession aus dem Schwarzwald nach Hause kam, bat seine drei Begleiter kurz anzuhalten, und er holte aus seinem Rucksack Plastikbecher und eine Flasche Wein hervor.
***
Die letzten Meter hinauf zur