Christine Boy

Sichelland


Скачать книгу

sich Sara schwach.

      "Ach? Die Alternative wäre, dass dich jemand geschickt hat und das macht die Sache nicht gerade besser für dich – und schon gar nicht für den, der dahintersteckt! Wer ist es? Menrir? Beema? Oder eine deiner vorlauten Freundinnen?"

      "Niemand hat mich geschickt. Niemand wusste, dass ich hinausgehe."

      Lennys atmete tief durch, doch noch immer kochte ihr Blut und sie wünschte sich sehnlichst, der Feind, den sie vor Kurzem noch vor sich zu haben glaubte, möge jetzt vor ihr erscheinen, um all ihre Wut spüren zu können. Selbstbeherrschung war nie ihre Stärke gewesen und in eben diesem Moment erkannte sie deutlich die Grenze dieser nicht besonders ausgeprägten Eigenschaft.

      "Du wirst mir jetzt sagen, warum du dort draußen warst und wehe dir, du verschweigst etwas oder versuchst zu lügen." presste sie dann zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Nicht einmal ein Wimpernschlag hat dich von dem sicheren Tod getrennt und im Augenblick bist du nicht sehr viel weiter davon entfernt."

      Zum ersten Mal schaute Sara auf. Sie sah in Lennys' abweisendes, kühles Gesicht, dessen Züge aber gleichzeitig edel und anziehend wirkten. Wenn sie lachte, musste sie sicher viele Blicke auf sich ziehen, doch dazu kam es wohl nur selten. Die schwarzen Augen schienen wieder Funken zu sprühen und Sara fragte sich, ob es sonst etwas auf der Welt gab, das Eiseskälte und lodernde Glut so in sich vereinen konnte. Ohne den Blick abzuwenden, antwortete sie, diesmal jedoch nicht leise oder zurückhaltend, sondern direkt und sogar ein wenig selbstsicher.

      "Zwei Tage lang hörte ich davon, dass Cycala im ganzen Land ermordet werden. Und dass manche Verbrechen sogar am hellichten Tage geschahen, dass ganze Familien auf einmal ausgelöscht wurden....." Sie stockte und fuhr dann etwas ruhiger fort. "Heute nacht seid ihr alleine in den Wald gegangen und niemand wusste davon. Niemand... hätte ... etwas tun können... wenn eure Feinde euch dort gefunden hätten."

      Lennys lachte freudlos. "Willst du mir etwa erzählen, du wolltest auf mich aufpassen, kleines Mädchen?"

      Sara sah wieder zu Boden und schüttelte den Kopf.

      "Ich weiß nicht, was ich wollte. Ich bin euch eine Last und keine Hilfe und das ist mir wohl bewusst. Aber eines wollte ich ganz sicher nicht: Morgen erfahren, dass auch ihr ein Opfer dieser Verbrechen geworden seid."

      "Ich brauche sicher keine halbwüchsigen Tempeldienerinnen, die mich beschützen. Vergiss nicht, wem du gegenüberstehst!" Doch noch während sie sprach, spürte Lennys, dass sie erneut ungerecht wurde. Sara hatte ihr helfen wollen, ohne zu wissen, wie sie das anstellen sollte. Sie hatte gewusst, dass sie selbst keine Chance gegen Angreifer haben würde und trotzdem hatte sie sich alleine nach draußen gewagt, nur, um es im schlimmsten Fall zumindest zu versuchen. Ohne die geringste Ahnung zu haben, in welche Gefahr sie sich dadurch begab. Wie konnte sie auch?

      "Es ist nicht deine Aufgabe, auf meine Sicherheit zu achten, das tue ich lieber selbst." sagte Lennys dann etwas entspannter, auch wenn ihr Ärger noch nicht vollkommen verflogen war. "Und ich erwarte, dass du in Zukunft solche Alleingänge bleiben lässt. Genauso wenig wie ich ein Kindermädchen brauche, habe ich Lust, das deinige zu spielen, haben wir uns verstanden?"

      Sara nickte, hob dann aber erneut den Kopf.

      "Es tut mir leid."

      Lennys zuckte die Achseln. Eine Entschuldigung bedeutete nichts, denn der Fehler war bereits geschehen.

      "Es gibt sehr viele Dinge, die du nicht weißt. Halte dich aus ihnen heraus, wenn du an deinem Leben hängst."

      "Darf ich .. etwas fragen?"

      "Frag, aber erwarte keine Antwort."

      "Ich würde gerne... etwas mehr über die Sage von Ash-Zaharr erfahren. Darf ich unseren Bibliothekar danach fragen?"

      Lennys runzelte die Stirn. Natürlich konnte sie der Novizin schwer verbieten, im eigenen Tempelarchiv alte Schriften zu studieren und genauso natürlich wollte sie das nicht erlauben. Sie hätte Sara niemals diese Kette zeigen dürfen, denn anscheinend hatte die hierzulande kaum bekannte Legende die Neugier des Mädchens geweckt. Und das war das Allerletzte, was gut für sie war.

      "Ich mag für diese Tage deine Herrin sein, aber ich werde mir nicht das Recht herausnehmen, über deine Ausbildung zu verfügen. Du wirst in eurer Bibliothek wohl nichts finden, was dich zufriedenstellt. Aber wenn du wissen möchtest, ob ich diese Suche gutheiße, dann heißt meine Antwort 'Nein'. Ich kann dich nicht zwingen, diesen Tag heute zu vergessen, aber ich täte es, wenn ich die Möglichkeit hätte."

      "Ich dachte nur, es wäre einfach ein Märchen."

      "Das ist es. Ein Märchen. Und es sollte in Vergessenheit geraten. Es war mein Fehler, dass ich das Interesse daran in dir geweckt habe."

      Sara sah plötzlich sehr verlegen aus.

      "Nicht nur ihr."

      "Was meinst du damit?"

      "Als Beema uns Novizinnen erzählte, dass eine Gesandte Cycalas hier im Tempel wohnen würde... da wurden plötzlich viele Geschichten erzählt. Über euer Land und die Menschen, die dort leben. Ich habe nie richtig zugehört, weil ich dachte, es wären ohnehin nur Gerüchte."

      "Euer Tratsch interessiert mich nicht."

      "Eine Novizin – Ilele war es – sagte, in Cycalas würde man den Schlangendämon anbeten und deshalb sei sie sehr überrascht, dass ihr ausgerechnet im Nebeltempel wohnen wollt."

      Lennys dachte lange nach.

      Ein weiterer Becher Rum folgte und sie ahnte, dass sie am nächsten Morgen dieses Gespräch bereuen würde. Aber was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Es war kein Geheimnis, sondern einfach nur eine im Mittelland unbekannte Tatsache. Eine Tatsache, die niemanden etwas anging, auch Sara nicht, zweifellos. Aber in diesem einen schwachen Moment, nach diesem unangenehmen Tag und dem misslungenen Abend, nach zu viel Alkohol und zu wenig Schlaf, erschien es der Cycala plötzlich gar nicht so abwegig, darüber zu sprechen. Sie gebot Sara wortlos, sich zu setzen und wartete auch noch einige Minuten stumm ab, nachdem sie ihr Folge geleistet hatte.

      Dann fing sie an:

      "Die Mysterien unserer Tempel sind viel komplexer als die euren und unser Glaube gleicht nicht eurer Götterverehrung. Wir haben keine Götzenbilder, keine morgendlichen Zeremonien, keine Dankesopfer. Wir ehren und respektieren Kräfte und Mächte, die man nicht in klare Worte fassen kann. Wir heiligen das Blut in unseren Adern und den Fortbestand unserer Fähigkeiten. Doch das alles ist nur ein Teil dessen, was ihr unter Religion versteht. Denn es ist wahr, Ash-Zaharr bildet das Zentrum dessen, was wir unseren Glauben nennen. Und manche - in diesem Fall eine eher kleine Gruppe - dient ihm, indem sie einige seiner Eigenschaften übernehmen."

      "Gehört ihr.....?"begann Sara, doch Lennys unterbrach sie mit einer Handbewegung.

      "Ash-Zaharrs Legende ist älter als die Geschichte Mittellands und beinahe ebenso alt wie die des gesamten Kontinents. Seit Menschen hier leben und sich Märchen erzählen können, existiert die Sage und seit dieser Zeit gilt der Schlangendämon als der Überbringer des Todes. Fünf Geisterwesen beherrschten Sacua, so heißt es. Vier von ihnen waren gut und wohlgesonnen, sie schufen das Leben, das Land, das Licht, das Wasser, aber auch die Freuden und das Glück. Doch der fünfte war das Gleichgewicht, denn wo Leben ist, muß auch Tod sein und wo Licht ist, fällt auch Schatten. Der Tag bedingt die Nacht und der Frieden den Kampf. So war es immer und so wird es immer sein. Und er nannte sich Ash-Zaharr, der Dämon des Blutes und der Finsternis und er nahm das Leben und das Licht, denn nur was genommen wird, kann zurückgegeben werden. Viele kennen sein Bild als das der geflügelten Schlange, die das Blut aus der Kehle ihrer Opfer saugt und davon berauscht wird, denn dies sei seine tiefste Erfüllung. Verflucht wurde seine Gier, und doch ist er der einzige, der nie besiegt werden kann."

      "Selbst nicht von den anderen Geistern?"

      "Nein. Nicht einmal eine Armee von ihnen könnte den Tod besiegen. Wer kann das schon? Und wer will es? Doch die anderen waren Fünf und selbst Ash-Zaharrs Durst und Verlangen nach Blut, selbst die unübertroffene Macht der Finsternis – sie allein konnten nicht das Gleichgewicht herstellen,