Christine Boy

Sichelland


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an einer ebenso fehlenden Kette hinaufzuziehen. Wasser, das ohnehin nicht da war.

      Lennys sah nicht hinein. Sie starrte auf die Mauersteine ohne sie zu sehen, aber sie wusste auch, dass sie noch weit davon entfernt war, in die Tiefe blicken zu können. Vermutlich gab es dort nichts zu sehen außer Schwärze und Leere, der Grund war viel zu tief. Aber wenn man etwas erkennen konnte... irgendetwas... dann wollte sie es nicht sehen. Niemals. Die Vergangenheit war auch so nur allzu lebendig, gerade hier, gerade jetzt. Und es waren jetzt nicht die brüchigen Mauersteine, die sie sah, sondern Bilder aus einer anderen Zeit. Bilder, von denen sie geglaubt hatte, sie hätte sie für immer aus ihrem Gedächtnis verbannt und doch waren sie jetzt lebendiger als jemals zuvor. Sie niederzukämpfen, sie zu vertreiben und sie zurück ins Dunkel zu jagen, in der Hoffnung, sie mögen auf ewig dort in der Vergessenheit verbleiben, war eine Schlacht gegen unsichtbare Feinde. Eine Schlacht, die Lennys in diesen Minuten bestritt, doch sie wusste, dass sie nicht einfach gehen konnte. Sich umdrehen und wieder in das friedliche Grün des Drei-Morgen-Waldes zu starren, würde nicht den ersehnten Sieg bringen. Nein, sie musste es hier schaffen, wohl wissend, dass sie an diesem Ort der Vergangenheit näher war als sonst irgendwo. Sie lief dem Feind in die Arme, denn nur dort konnte sie über ihn triumphieren. Und er konnte sie für immer gefangennehmen, sollte sie bei diesem Versuch unterliegen.

      Sara wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Sie war dort am Waldrand stehengeblieben, wie Lennys es von ihr verlangt hatte und hatte ihre Herrin beobachtet. Diese kniete nun schon so lange unbeweglich am Rande des Brunnens, dass es Sara allmählich unheimlich wurde. Was war das für ein Ort, was war dort unten und warum war ihre Herrin hierher gekommen? Zuerst hatte die Novizin geglaubt, Lennys würde etwas suchen oder vielleicht jemanden antreffen wollen, aber nichts dergleichen geschah. Es kam auch niemand hierher, ganz wie die Cycala es prophezeit hatte. 'Es gibt hier keine Banditen' hatte sie gesagt. Weil sie es nicht glaubte? Oder weil sie es besser wusste? Aber woher kamen dann all die Geschichten von brutalen Überfällen, von Plünderungen und Entführungen? Andererseits hatte Sara hier selbst schon viele Stunden verbracht und noch nie war sie jemandem begegnet, abgesehen von einem Wanderer und einem Kräutersammler, die beide einen verängstigten Eindruck gemacht hatten. Doch heute störte niemand die Stille auf der Lichtung und selbst die Vögel und Insekten schienen ihr sonst so lebhaftes Konzert für die beiden Besucher zu unterbrechen. 'Es ist kein guter Ort', dachte Sara. Auch Lennys war nicht gerne hierher gekommen, und die Tatsache, dass sie scheinbar wusste, was sich hinter oder vielmehr in diesem seltsamen Schacht verbarg, wirkte nicht gerade beruhigend. Trotzdem verspürte Sara keine wirkliche Angst, es war eher so, als würde etwas, das sie selbst nicht sehen konnte, einen Schatten auf ihre Stimmung werfen.

      Endlich richtete die Cycala sich wieder auf. Noch konnte sie den Blick nicht abwenden von diesem unscheinbaren Mauerkreis, doch unverkennbar schien sie die Herrschaft über ihren Willen und die gesamte Situation zurückzugewinnen. Sie griff in die Innentasche ihres Umhanges und zog ein schwarzes, zusammengeschlagenes Tuch heraus. Dann nickte sie Sara zu sich.

      „Weißt du, was das ist?“ fragte sie und wickelte eine feine Silberkette mit einem kunstvoll gearbeiteten Anhänger aus der Seide. Das Schmuckstück zeigte eine gewundene und doppelt geflügelte Schlange, die das Maul weit geöffnet hatte und schimmernde Fangzähne entblößte. Statt eines Auges funkelte dem Betrachter ein mitternachtsblauer Saphir entgegen.

      Sara betrachtete den Anhänger und war sich sicher, dass dies selbst für cycalanische Verhältnisse ein Meisterstück darstellte, denn die Figur wirkte so lebendig und war so detailliert geformt, dass man glauben konnte, sie würde sich jeden Moment auf Lennys' Hand zu winden beginnen.

      „Ash-Zaharr..?“ fragte Sara unsicher.

      „Du kennst dieses Bild also. Was weißt du darüber?“ fragte Lennys weiter ohne eine Reaktion auf Saras Antwort zu zeigen.

      „Nicht viel. Er ist der Dämon der Finsternis und des Todes und lebt ausschließlich von Blut. Er tritt meist als geflügelte Schlange auf. Ein Schauermärchen, um Kindern Angst zu machen und deshalb erwähnen die Tempellehren ihn nicht weiter.“

      Lennys nickte düster.

      „Ein Märchen. Nicht weiter erwähnenswert.“ Sie streckte die Hand über dem Brunnen aus und ließ die Kette samt Anhänger, ohne sie noch einmal anzusehen, in die Tiefe hinabfallen. Kaum wahrnehmbar schlug das Silber leise klirrend auf etwas Hartem auf.

      „Du sagtest, du hättest einmal einen Stein hineingeworfen, um zu hören, wie tief der Schacht ist?“ fragte Lennys dann.

      „Ja, als ich das erste Mal hier war.“

      Die Cycala sah Sara tief in die Augen und ihr Blick war so bedrohlich wie nie zuvor. „Ich möchte nicht, dass du so etwas noch einmal tust.“

      „Das hatte ich nicht vor. Ich weiß, was ich wissen wollte.“ antwortete Sara und hätte sich im selben Moment am liebsten die Zunge abgebissen. Doch Lennys' Ausdruck entspannte sich.

      „Dann ist ja gut.“ Sie machte ein paar Schritte in Richtung Waldrand.

      „Wir gehen zurück. Es ist spät geworden und ich möchte noch einen kleinen Umweg machen.“

      Zunächst folgten sie dem Pfad, auf dem sie hergekommen waren, in Richtung Süden, doch an der Kreuzung bog Lennys nicht zum Nebeltempel im Osten, sondern nach Westen in Richtung Goriol ab. Bald darauf führte der Weg wieder weiter nach Süden und somit direkt auf die Stadt der Wanderer zu. Die Sonne stand schon recht tief. Besorgt warf Sara einen Blick zum Himmel.

      „Hast du Angst vor der Dunkelheit?“ fragte Lennys spöttisch.

      „Nein. Ich dachte nur, ihr wolltet nicht nach Goriol....“

      „Wir gehen nicht in die Stadt. Es ist nicht mehr weit.“

      Etwa eine halbe Stunde später erreichten sie einen Bach, über den eine überraschend große und wuchtige Brücke führte. Sara wusste, dass sie für die Händler und Pferdewagen gebaut worden war, die trotz der vielen Banditen den Wald dem offenen Gelände vorzogen. Hinter der Brücke gabelte sich die schmale Straße erneut, doch Saras Befürchtung, sie würden sich nach Westen und somit in Richtung Elmenfall wenden, das von hier aus gesehen noch mindestens eine halbe Tagesreise entfernt war, bewahrheitete sich nicht.

      Stattdessen blieb Lennys stehen und sah sich stirnrunzelnd um. Einige splittrige, scheinbar behauene Stellen im Stamm einer Buche am Wegesrand erweckten schließlich ihre Aufmerksamkeit. Sie betrachtete die Einkerbungen genauer und bemerkte auch ähnliche Spuren auf dem Brückengeländer, das an dieser Stelle merkwürdig dunkel verfärbt war.

      Mehrmals ging Lennys zwischen den Bäumen und der Brücke hin und her, begutachtete den Boden und einige abgerissene, verottende Pflanzen. Auch den Bach nahm sie genau in Augenschein und schien dabei jeden Zentimenter des sandigen Grundes durch das kristallklare Wasser hindurch in ihr Gedächtnis aufzusaugen. An einem Punkt, den Sara von ihrer Position aus nicht sehen konnte, hielt Lennys inne, sprang die Böschung hinab und landete sicher auf einem flachen Stein, der an einer seichten Stelle aus dem Nass ragte. Sie beugte sich hinab, griff hinunter in den algenüberwucherten Schlamm und zog dann einen länglichen Gegenstand aus dem Wasser. Erst als sie wieder nach oben zurückgekehrt war, erkannte Sara, dass es eine Art Stiel für ein Werkzeug war – grob gehauen und kaum zwei Ellen lang, am unteren Ende dick und vom häufigen Gebrauch blank poliert, nach oben hin aber schmaler werdend und durch einen breiten Schlitz und mehrere Löcher durchbrochen, aus denen noch zwei abgerissene Lederschnüre baumelten.

      Ohne den Wert dieses Fundes zu kommentieren, ließ Lennys ihn in ihre Tasche gleiten, aus der er ein Stück herausragte und warf einen letzten Blick auf die Brücke.

      „Das reicht für heute. Wenn wir uns beeilen, können wir den größten Teil des Rückweges noch schaffen, bevor die Nacht hereinbricht.“

      Sara war froh über diese Worte. Obwohl sie häufiger lange Wanderungen mit der Vorsteherin unternommen hatte, war dieser Tag doch anstrengend gewesen. Sie hatten kaum Pausen gemacht, abgesehen von dem längeren Aufenthalt an der Schildkraut-Lichtung, doch der Kampf durch das Unterholz, der steile Auf- und Abstieg und nicht zuletzt die Schwüle, die sie seit Stunden begleitete, zehrten an