Christine Boy

Sichelland


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hinüber, nahm die Rumflasche und leerte zwei Becher hintereinander, um gleich danach den dritten zu füllen. Sie wollte schlafen, wollte nicht nachdenken müssen oder die nächsten Stunden im Kampf gegen Erinnerungen verbringen. Gleichzeitig wusste sie, dass Schlaf keine wirkliche Erholung bedeutete, denn Träume waren ihre Schwäche. Ständig bemühte sie sich, auch ihr Unterbewusstsein unter Kontrolle zu halten, aber auch, wenn ihr das in den meisten Fällen gelang, so gab es doch Momente, in denen sie sich der Kraft der Gedanken geschlagen geben musste. Heute, am Brunnen, war ein solch seltener Moment gewesen. Und es gab Nächte, in denen sie Ähnliches vor sich sah, es bekämpfte und verbissen um den Sieg rang. Die Niederlagen nahmen ab, wurden erträglicher und verschwanden bald ganz. Aber sie fühlte sich verwundbar und ahnte, dass die nächsten Stunden eine neue Schlacht bereithielten. Sie konnte die Schatten der Nacht vertreiben, aber sie konnte nicht verhindern, dass sie sie herausforderten. 'Keine Klinge der Welt kann Gedanken besiegen.' dachte sie als die den dritten Becher hinunterstürzte.

      Das Gewitter hatte noch nicht nachgelassen und im Tempelhof stand das Wasser bereits knöchelhoch. Abgerissene Äste wurden wie Papierspielzeug über den Platz gefegt und die mächtigen Kastanien ächzten bedrohlich, wenn die Sturmböen auf sie trafen.

      Als Lennys die Grenze des Tempelgeländes erreichte, klebte ihre vollkommen durchnässte und vollgesogene Lederkleidung wie eine zweite Haut am Körper. Den Umhang hatte sie im Schlafzimmer gelassen, er hatte bei solchen Verhältnissen keinerlei Sinn und würde weder vor Wind noch vor Regen schützen. Nur ihren Gürtel trug sie und mit ihm die Waffen, ohne die sie draußen nie einen Schritt tat. Es spielte keine Rolle, dass die schimmernde Sichel nun nicht verdeckt war, denn mittlerweile war es so finster geworden, dass die Waffe schneller zu spüren denn zu sehen war. Doch Dunkelheit war kein Problem für die Cycala. Nicht nur, dass sie beinahe allen Gegnern überlegen war, wenn es darum ging, Details in nahezu absoluter Finsternis zu erkennen, nein, für sie war die Nacht geradezu ein Verbündeter, der Sicherheit und Schutz bot.

      „Die Gebieter der Nacht“, so nannten sich die Krieger des Sichellandes und ihnen allen war diese Neigung gemein.

      Heute jedoch musste Lennys zugeben, dass diese Stärke weniger ausgeprägt war als sonst. Die Ereignisse des Tages und mehrere Becher Rum bewirkten gemeinsam, dass ihre Aufmerksamkeit und ihre Vorsicht beeinträchtigt waren und so erkannte sie den Schatten unter den dichten Tannen erst, als sie nur noch wenige Meter entfernt war. Im letzten Moment schaffte sie es, hinter einigen Bäumen Deckung zu suchen und von dort aus die Gestalt zu beobachten, die umherschlich. Seltsamerweise tastete sie sich nicht in Richtung des schützenden Tempels, sondern weiter in den Wald hinein.

      Lautlos glitt Lennys' Hand hinunter und legte sich dann sicher um den Griff des kurzen Säbels. Im Gegensatz zu der Sichel würde er ihr auch gehorchen, wenn sie nicht die Höhe ihrer Leistungsfähigkeit erreichte.

      Der Schatten glitt weiter, blieb hin und wieder stehen und schien auf mögliche Geräusche oder Bewegungen um sich herum zu warten.

      'Er sucht etwas. Er sucht mich.' dachte Lennys. Ihr war vollkommen klar, dass es kein Zufall war, dass die Gestalt sich gerade hier aufhielt. Dieser Jemand hatte sie gesehen und nur weil sie einige Minuten hinter der Tempelmauer ausgeharrt hatte um die schwach beleuchteten Fenster zu beobachten, hatte er sie überholt, so dass sie fast in ihn hineingelaufen wäre.

      Lautlos näherte sie sich dem Verfolger. Hätte der Sturm nicht geheult wie eine Meute hungriger Wölfe, so hätte sie schon seinen Atem vernehmen können. Nur noch zwei Meter...er war direkt vor ihr... einen Meter... das leise Kratzen als der Säbel aus der Scheide gezogen wurde, ging in einem neuerlichen Donnergrollen unter...

      Kapitel 3

      In dem Augenblick als die Klinge sich auf die Kehle der Gestalt legte, erstarrte diese. Sie wehrte sich nicht, als Lennys ihr ruhig, aber keinen Widerstand duldend den Arm auf den Rücken drehte, bemerkte aber gleichzeitig schaudernd, dass die Hand, die den Säbel so bedrohlich gegen ihren Hals presste, weder zitterte, noch sonstige Anzeichen von Unsicherheit zeigte.

      Der Angriff war vollkommen lautlos vor sich gegangen, doch jetzt durchschnitt Lennys' kalte Stimme das Rauschen des Windes und des Regens.

      "Hast du wirklich gedacht, dass ihr mich so einfach kriegen könnt?"

      Es war leichtsinnig, was sie tat. 'Viel zu leichtsinnig.' dachte sie. Hier im gewittergebeutelten Wald konnten sich noch zehn weitere Feinde verstecken, die nur darauf gewartet hatten, dass sie sich offen zeigte oder einen von ihnen angriff. Einen Moment lang ärgerte sich Lennys, dass sie nun schon den zweiten großen Fehler in kurzer Zeit machte, doch gleichzeitig fühlte sie sich sicher und überlegen. Hatte sie auch diesen einen Verfolger viel zu spät bemerkt, so war sie dennoch überzeugt, dass eine größere Gruppe ihren scharfen Sinnen nicht entgangen wäre. Selbst eine ganze Flasche Rum hätte ihre Instinkte nicht so stark betäuben können, dass sie blind in eine Übermacht von Angreifern gelaufen wäre.

      Sie genoss die spürbare Angst ihres Opfers, sog gierig das Geräusch der stossweisen Atemzüge in sich auf und fühlte ihre Macht in jeder Ader pulsieren. Eine einzige Regung des anderen und er hatte sein Leben verwirkt... ein Schrei und er würde im selben Augenblick nur noch das Gurgeln der durchtrennten Kehle von sich geben können. Doch er bewegte sich nicht...und er antwortete auch nicht.

      "Ich gestatte dir deine letzten Worte, bevor du ihrer nicht mehr fähig bist!" zischte Lennys und verstärkte den Druck auf die Klinge. Gleichzeitig ahnte sie dunkel, dass etwas nicht stimmte. So widerstandslos ergab sich keiner, der sonst die Sichelländer mit einer Axt zu erschlagen pflegte. Und während der eine Arm des Unbekannten sich mühelos nach oben drücken ließ, machte die andere Hand noch nicht einmal den Versuch, die bedrohliche Waffe von sich fernzuhalten.

      "Ich bin es." sagte die Gestalt plötzlich kaum vernehmbar mit sanfter, aber auch ein wenig angsterfüllter Stimme.

      Saras Stimme.

      Sofort ließ Lennys den Arm los und gleichzeitig ihren Säbel sinken. Dann fauchte sie wütend:

      "Was zum Teufel treibst du hier? Ich war kurz davor, dich zu töten!" Lennys hielt immer noch den Griff der Waffe eng umschlossen, als glaubte sie, ihre Gegenüber würde sich vielleicht doch noch als der erwartete Feind entpuppen, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen hielt Sara den Blick zu Boden gesenkt und sagte:

      "Ihr hattet mir nicht verboten, nachts hinauszugehen."

      Diese Antwort verblüffte Lennys derartig, dass sie am liebsten doch noch von ihrer Klinge Gebrauch gemacht hatte. Gleichzeitig spürte sie, wie ihr Zorn langsam verrauchte.

      "Nein, das habe ich in der Tat nicht. Aber erzähl mir nicht, du wärst zufällig hier – bei diesem Wetter. Du hast mir nachspioniert."

      Die Novizin antwortete nicht.

      Plötzlich war es wieder taghell, für den Bruchteil einer Sekunde hatte ein Blitz den Wald in weißes Licht getaucht. Lennys sah, dass auch Sara in ihrem Wollumhang bis auf die Haut durchnässt war und ihr leises Zittern war wohl nicht nur auf die eben ausgestandene Angst, sondern wahrscheinlich auch auf die Kälte zurückzuführen, die der Sturm mit sich brachte.

      Die Lust auf eine Fortsetzung dieses nächtlichen Spaziergangs war der Cycala jetzt vergangen, zumal sie gerade sehr deutlich vor Augen geführt bekommen hatte, dass sie heute besser keine Risiken mehr eingehen sollte.

      "Komm mit." sagte sie barsch und obwohl sie sich auf dem gesamten Rückweg zum Tempel nicht ein einziges Mal nach Sara umsah, so achtete sie doch darauf, dass die beinahe lautlosen Schritte hinter ihr nicht verstummten oder sich zu weit entfernten.

      Die Sichelländerin konnte sich nur schwer davon abhalten, die Tür ihres Zimmers laut knallend ins Schloss fallen zu lassen. Ganz war ihr Ärger noch nicht abgeflaut und sie musste ihm irgendwie Luft machen. Da sie aber weder den ganzen Tempel aufwecken noch das Inventar des Schlafraumes zerschlagen wollte – so sehr ihr auch danach war -, nahm sie die Rumflasche, füllte einen Becher und trank ihn in einem Zug leer.

      "Was hast du dir dabei gedacht?" fuhr sie Sara dann erneut an. "Wie zügellos muss deine Neugier sein, dass du mitten in der Nacht bei Gewitter