Claudia Gürtler

Zirkus Zauberhaft


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href="#u7108f743-d587-5919-9cd6-450852ea77db">Ein grosses Geschenk für Ursus

       Impressum neobooks

      Ursus kann fliegen

       Wenn du springst, fällst du; wenn es aber Hände gibt, die dich auffangen, überwindest du alles, die Schwerkraft, das Böse, die Angst.

      Als er ganz klein war, ja, da konnte er es! Als Ursus drei, vier und fünf Jahre alt war, konnte er fliegen. Ganz leicht ging das. An kühlen Tagen und bei blassblauem Himmel war es besonders einfach.

      War es Traum? War es Wirklichkeit? Es war beides, ganz bestimmt war es beides, aber was kümmerte es ihn!

      Er konnte fliegen! Das allein zählte. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl hob den Jungen hoch und trug ihn hinauf bis fast zu den Wolken. Und wenn er wieder Erde oder Gras unter den blossen Füssen spürte, hüpfte er leichtfüssig durch den Tag und strahlte übers ganze Gesicht.

      Gregor im Jahr des ersten Geschenks

       Murten, 3. November 1912

      Auch Gregor flog im Traum, und als er sechs wurde, gab er zu, dass er vom Zirkus träumte. Er flüsterte, als er sich zum ersten Mal den Besuch einer Zirkusvorstellung wünschte. Er ahnte, dass sein Wunsch im Hause Schröder nicht gut ankommen würde. Und er hatte Recht.

      Träume sind gut und schön.

      „Aber sie müssen irgendwo hinführen“, sagte Herr Schröder.

      „Wohin denn?“, fragte Gregor.

      Er dachte daran, wie einfach es war, zu fliegen, wenn der Himmel kühl und blassblau war, aber das behielt er für sich.

      „Zu etwas Sinnvollem wie Erfolg, Anerkennung und gutem Verdienst“, erklärte Herr Schröder. „Vielleicht sogar zum Nobelpreis.“

      Frau Schröder strich ihrem Jungen übers dunkle Haar, aber ihre Stimme klang fest und bestimmt.

      „Für Träume, die nirgendwo hinführen ist kein Platz im Hause Schröder. Das weisst du, nicht wahr, mein Junge? Also warum träumst du nicht davon, ein berühmter Physiker zu werden oder ein …“

      Gregor hörte nicht länger zu. Er kämpfte gegen die dunkle Wut an, die manchmal in ihm brodelte.

      Niemand, dachte er trotzig, niemand konnte ihn am Träumen hindern. Auch nicht am Fliegen!

      Gregor hatte Anfang November Geburtstag, und als er neun wurde, begann die Zeit der Geschenke. Die Kälte, die durchs halb offene Fenster drang, weckte ihn früh. Auf dem Fenstersims lag im allerersten Schnee des Winters eine kleine rote Schachtel. Das Geburtstagsgeschenk, das sie enthielt, liess Gregors Herz höherschlagen. Ein strammer Turner in weisser Hose und blauem Hemd mit goldenen Sternen war’s. Er hatte die winzigen Hände fest um eine Stange gelegt, und wenn Gregor eine kleine Kurbel drehte, drehte auch er sich, erst langsam, dann immer schneller, bis das Weiss der Hose und das Blau des Hemdes zu einem hellblauen Wirbel verschmolzen.

      Gregor versuchte, es dem kleinen Turner gleich zu tun. Frühmorgens übte er in seinem Zimmer Purzelbäume auf dem Teppich und Saltos von Bett und Schrank. Er benutzte die Matratze als Trampolin. Irgendwann würde er wirklich fliegen zu können, da war er sich ganz sicher. In seinen Träumen sah er sich hoch oben unter einer Zirkuskuppel. Er trug eine weisse Hose und ein blaues Hemd mit goldenen Sternen, und die Zuschauer legten die Köpfe in den Nacken und hielten den Atem an.

      Als Gregor nach einem Doppelsalto rückwärts, auf den er sehr stolz war, die Matratze verfehlte, rief das Gepolter eines fallenden Stuhls die Eltern in sein Zimmer.

      Stumm sassen sich die drei an diesem eiskalten Morgen seines neunten Geburtstags beim Frühstück gegenüber.

      „Wir wissen, dass du inzwischen ein sehr geübter Leser bist“, sagte Herr Schröder, und seine Stimme schwankte zwischen Vorwurf und Stolz.

      „Du glaubst, dass du Geheimnisse vor uns hast, aber …“ Er liess den Satz unvollendet.

      „Geheimnisse sind gut und schön, aber wir möchten, dass du sinnvolle Träume träumst“, ergänzte Frau Schröder. Sie legte ein Geschenk neben Gregors Teller. Es war in blauweisses Papier eingewickelt und Gregor dachte, wie gut es doch sei, dass er den Turner ganz hinten im Kleiderschrank versteckt hatte, bevor er mit seinen Übungen begann. Er bedankte sich für das dicke Buch über die Gesetze der Schwerkraft und hoffte, dass man ihn nie fragen würde, was drinstand.

      Da war sie wieder, die Wut, die ihn mit den Zähnen knirschen liess. Eine Wut auf nichts und auf alles. Eine Wut wie ein brodelnder Vulkan, der ausbrechen wollte, aber nicht ausbrechen konnte.

      Maika und das Kästchen

       Gruyères, 4. November 1912, spätabends

      Maika kaute auf ihrer Unterlippe herum.

      Nonno Louis wartete.

      Immer dauerte es eine ganze Weile, bis Maika herausrückte mit den Dingen, die sie umtrieben und bedrückten.

      „Denkst du nicht, dass es höchste Zeit wäre, Gregor das Kästchen zu bringen?“

      Nonno Louis schaute sie lange an, schwieg aber. Bestimmt hatte Maika noch mehr auf dem Herzen, und je weniger er fragte, umso eher würde er es erfahren.

      „Heute war er wieder wütend“, berichtete Maika. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, Nonno Louis, wie wütend er war!“

      „Hatte er denn einen Grund, wütend zu sein?“, wollte Nonno Louis wissen.

      Maika verdrehte die Augen. Warum fragte Louis noch, wenn er eh immer alles wusste, bevor man es auch nur gedacht hatte?!

      „Er war wütend, weil er Geburtstag hatte“, brachte Maika schliesslich heraus.

      „So?“, wunderte sich der Nonno. „Na, wenn das mal nicht ein sehr seltener Grund ist!“

      „Wenn du das dicke Buch gesehen hättest mit den langen Kapiteln und den schwierigen Wörtern, das Gregor lesen muss! Wenn Du die Gesichter von seinem Papa und seiner Mama gesehen hättest! Wenn du … , ach, Nonno Louis, denkst du nicht auch, dass es Zeit wäre für das Kästchen, allerhöchste Zeit?“

      „Gregors Wut kann ich mir vorstellen.“ Der Nonno nickte.

      „Er war so wütend wie ein Drache, der eine Prinzessin verschlucken wollte, aber einen Felsbrocken erwischte.“

      „Mindestens“, rief Maika erleichtert, „mindestens.“

      „Er ist ein Vulkan, der brodelt und kocht, aber nie ausbricht“, vermutete Nonno Louis.

      „Genau, genau!“

      „Dann, denke ich“, sagte Nonno Louis, „ist es Zeit für das Kästchen.“

      Er holte ein hölzernes Kästchen aus seinem Wohnwagen und drückte es Maika in die Hand.

      „Die Anleitung, die Anleitung“, sagte Maika ungeduldig. „Du musste eine Anleitung schreiben, Nonno Louis.“

      „Aber Maika“, schalt der Nonno gutmütig. „Die ist doch längst geschrieben.“

      Maika schob den Deckel etwas zur Seite und spähte in das Kästchen hinein. Richtig, da war sie, die Anleitung, aufgeschrieben in Nonno Louis‘ steiler Schrift. Das Papier steckte zwischen den hölzernen Würfeln. Alles war, wie es sein sollte, und Maika machte sich auf den Weg.

      Gregor und das Kästchen

       Murten, 5. November 1912, frühmorgens

      Zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte,