Claudia Gürtler

Zirkus Zauberhaft


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die andere.“

      Er zog eine Walnuss aus der Tasche und rüttelte an den beiden Hälften, bis sie sich voneinander lösten. Maika sah lächelnd zu. So war er, der Nonno, sanft, aber bestimmt, und was immer er wollte, erreichte er.

      Sachte bewegte er nun auch die frische Nuss hin und her, auf und ab, bis sie sich aus der Schale löste. Er brach sie in zwei Hälften, entfernte die hölzerne Trennhaut und reichte Maika die eine Hälfte, während er sich die andere in die Backe schob.

      „Nächstes Jahr“, versprach er kauend, „nächstes Jahr ganz bestimmt.“

      Er warf Maika einen verschwörerischen Blick zu und sie freute sich still. Wie gut, dass sie sich einig waren. Nächstes Jahr also, nächstes Jahr ganz bestimmt.

      Gregor spielt

      Obwohl er dafür nun wirklich schon zu gross war, spielte Gregor, wann immer er alleine war, spielte mit der Versunkenheit eines Kindes, das man nie hatte spielen lassen.

      Zum fünfzehnten Geburtstag hatte er ein Pferd mit zwei Reiterinnen bekommen. Das Pferd war nachtschwarz und die Reiterinnen sassen dicht hintereinander auf seinem breiten Rücken.

      Gregor holte alle geschenkten Figuren hervor, dazu seine Bauklötze, die mit „Buche“, „Eiche“, „Esche“ und „Nussbaum“ angeschrieben waren. Wenn Kinder schon spielten, mussten die Spiele lehrreich sein. Allerdings hätten die Eltern wenig Freude an den Spielen ihres fünfzehnjährigen Sohnes gehabt, hätten sie davon gewusst. Gregor grinste vor sich hin. Es machte Spass, ihnen eins auszuwischen.

      Der Junge baute seinen Zirkus auf. Der Trompeter blies einen Marsch, als Gregor einen Knopf an seinem Hinterkopf drückte. Genau so, dachte Gregor, beginnt im Zirkus jeweils das Abendprogramm!

      „Es ist einfacher, durchs Leben zu hüpfen, als durchs Leben zu kriechen“, murmelte er vor sich hin. „Es ist einfacher, durchs Leben zu fliegen, als am Boden zu kleben; es ist einfacher, zu singen und Musik zu machen, als traurig zu sein. – Es ist einfacher laut zu werden, als seinen Kummer für sich zu behalten!»

      Gregor seufzte. War es das? War es einfach, zu sagen, was man dachte, wenn ein schönes Zirkusbild zerrissen wurde?

      In Gedanken versunken baute Gregor das rotweisse Zirkuszelt auf, legte die zweifach geknotete Schlange als Wächter vor den Eingang, damit das Publikum nicht zu früh die Ränge stürmte und nahm endlich den schwarzen Zauberzylinder in die Hand. Wenn man mit dem Finger rund um die Krempe strich, lugten zwei weisse Kaninchen daraus hervor. „Es ist einfacher, Kaninchen aus einem Hut zu zaubern als daran zu glauben, dass das Leben schön sein kann wie ein Zirkus!“, seufzte Gregor. Und wieder stellte er die bange Frage: „Ist es das?“

      „Es ist einfacher, sich mit Lügen zufrieden zu geben, als Antworten zu fordern“, sagte er laut und stand auf.

      „Ist es das? Ist es das? Ist es das?“, fragte er und gab sich selbst die Antwort: „Ja, das ist es! Antworten zu verlangen ist schwierig, sehr schwierig.“

      Aber der Tag war gekommen. Fragen mussten gestellt werden. Antworten mussten her. Heute. Jetzt!

      Wie vor langer Zeit steckte er den Trampolinspringer als Glücksbringer in die Tasche, auch das Pferd mit den Reiterinnen und die geknotete Riesenschlange. Ohne zu zögern ging er dieses Mal die ganze Treppe hinunter, klopfte höflich an die Stubentür und wartete auf das energische „Herein“ seines Vaters.

      Gregor macht eine Entdeckung

       Murten, 4. November 1918

      Gregor sah erst seinem Vater, dann seiner Mutter fest in die Augen und fragte, was an einem gemalten Zirkus so schlimm sei. Ein Weihnachtsgeschenk sei das Bild gewesen, ein Geschenk, mit dem er sich viel Mühe gegeben habe. Ein Weihnachtsgeschenk, mit dem er seine Eltern habe erfreuen wollen.

      „Uns macht ein Zirkus keine Freude“, sagte Frau Schröder spitz.

      „Warum nicht?“, fragte Gregor.

      Er wollte nun keineswegs aufgeben, bevor er Antworten erhalten hatte. Und sie kamen schneller als erwartet, die Antworten.

      „Seinetwegen“, sagte sein Vater.

      „Seinetwegen“, bestätigte die Mutter. „Dein Nonno Louis passt nicht ins Familienbild. Wir wollen keinen Zirkusdirektor in der Familie. Was sollen die Leute denken!“

      „Nun ja“, gab Herr Schröder zögernd zu, „er ist mein Vater. Er ist dein Grossvater.“

      „Was nicht bedeutet, dass er tun und lassen kann, was er will“, rief Frau Schröder. Ihre aufgebrachte Stimme schnitt in die Stille des Morgens.

      „Wir könnten ihn einladen“, schlug Gregor vor.

      „Auf keinen Fall!“, rief sein Vater sofort.

      „Das hätte gerade noch gefehlt“, ergänzte seine Mutter.

      „Wir sollten eine Vorstellung besuchen!“

      Gregor strahlte.

      „Ich wünsche mir zu Weihnachten, dass wir eine Zirkusvorstellung besuchen.“

      „Geh auf dein Zimmer“, verlangte seine Mutter, „wir wollen dich heute nicht mehr sehen.“

      „Na“, meinte Gregor, „so weit waren wir doch schon mal.“ Er hüpfte leichtfüssig die Treppe hoch.

      „Ich gehe in den Zirkus, das lasse ich mir nicht nehmen!“, rief er, bevor er die Tür zuknallte. Herr und Frau Schröder sahen sich an. Es war das erste Mal, dass Gregor eine Tür zuknallte.

      Gregor träumt

      Gregors Bitten, den Grossvater einzuladen oder zu besuchen, verhallten ungehört und unerfüllt, aber der Junge erwähnte ihn, den er nun Nonno Louis nannte, wieder und wieder. Trotzig und so oft wie möglich erwähnte er ihn, und die empörten Gesichter der Eltern amüsierten ihn inzwischen mehr, als dass er sich vor ihnen fürchtete.

      Er hatte einen Grossvater, der Zirkusdirektor war! Er war ein sehr trauriger Junge, aber ohne Zweifel auch ein sehr glücklicher.

      Er träumte nun immer öfter vom Zirkus. Zuschauer war er, Eisverkäufer, Jongleur, Dompteur, Direktor oder Turner am Trapez. Ja, das vor allem! Gregor sah sich durch die Luft wirbeln, stolz, kühn, vom Publikum beklatscht und bewundert.

      Wie einfach war es doch, vom Fliegen zu träumen, wenn der Tag kühl und der Himmel blassblau war!

      „Herrrrrrrreinspaziert, meine Damen und Herren“, rief Gregor und wedelte im Traum mit den Glacéhandschuhen.

      Wenn er morgens erwachte, fühlte er sich federleicht, so leicht wie ein Trapezkünstler, der durch die Zirkuskuppel fliegt.

      „Ihr, die ihr auf euren Sesseln klebt“, jauchzte Gregor, noch ganz erfüllt vom Traumglück, „schaut her, ich kann es, ich kann fliegen!“

      An manchen Abenden aber fühlte er sich schwer wie ein alter Tanzbär, der vom immer gleichen Programm genug hat und schwer am Leben und an sich selber trägt.

      Früher konnte Ursus fliegen

       1938 und später

      Als er ganz klein war, ja, da konnte er es! Als Ursus drei, vier und fünf Jahre alt war, konnte er fliegen. Ganz leicht ging das. An kühlen Tagen und bei blassblauem Himmel war es besonders einfach.

      War es Traum? War es Wirklichkeit? Es war beides, ganz bestimmt war es beides, aber was kümmerte es ihn!

      Er konnte fliegen! Das allein zählte. Ein unbeschreibliches Glücksgefühl hob den Jungen hoch und trug ihn hinauf bis fast zu den Wolken. Und wenn er wieder Erde oder Gras unter den blossen Füssen spürte, hüpfte er leichtfüssig