Claudia Gürtler

Zirkus Zauberhaft


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Mädchen zu sehen, das ihm eine Kusshand zuwarf, bevor es einen Salto auf Notturnos Rücken machte. Er spähte angestrengt ins Schneetreiben, aber das Kind war verschwunden. Hatten ihm seine Augen einen Streich gespielt? Wurde er vor lauter Glück verrückt?

      „Vielleicht werde ich irgendwann eine Tochter haben, die hoch oben im Zirkuszelt ihre Kunststücke zeigt. Vielleicht wird sie eine ebenso gute Reiterin wie Hasel und Birke“, sagte Gregor zu Maika.

      Maika lachte und sagte: „Wie alle Zirkusleute wirst du eine grosse Familie haben, und alle deine Kinder werden echte Artisten werden.“

      „Mein Grossvater hatte keine Familie“, sagte Gregor, und Reue und Bedauern schnitten ihm ins Herz.

      „Dein Grossvater hat dich“, sagte Maika, „das wusste er die ganze Zeit, und es machte ihn glücklich. Auch heute macht es ihn glücklich, heute ganz besonders.“

      Gregor fragte nichts weiter. Alles würde kommen, wie es kommen musste, und es war gut so. Er zwinkerte Maika zu und sagte: „Es wird schon kommen, das Glück!“

      Warm lag das Kästchen mit den dreiundzwanzig und einem halben Würfel an seiner Brust. Als hätte der Grossvater eine Hand auf sein Herz gelegt.

      Gregor findet das Glück auf der Strasse

       Auf der Landstrasse zwischen Murten und Gruyères, 5. November 1919

      „Du bist nun sechzehn Jahre und viele Stunden alt“, sagte Maika und brach damit ein langes Schweigen. „Es ist höchste Zeit, dass du heiratest!“

      Gregor lachte so unbeschwert, wie er noch nie im Leben gelacht hatte. In seinem Inneren kam etwas ins Rutschen und befreite ihn von einer grossen Last. Obwohl sie nun schon einige Stunden unterwegs waren und ein gutes Stück Wegs hinter sich gebracht hatten, hatte er das Gefühl, den alten Apfelbaum und sein Elternhaus erst jetzt zurückzulassen.

      „Alle Zirkusleute heiraten früh“, bemerkte Maika beleidigt, „und mit sechzehn Jahren und vielen Stunden extra bist du fast schon alt. Also streng dich gefälligst ein bisschen an.“

      Gregor lachte noch immer, lachte und lachte, als er plötzlich ein Mädchen sah, das mitten auf dem Weg stand. Sie hiess Géraldine, und sein Lachen verzauberte sie so sehr, dass sie alles vergass, was der Tag hätte bringen sollen an Verpflichtungen wie Brüder hüten und in die Schule gehen. Sie warf ihren Schulranzen in hohem Bogen in den Schnee, denn mit fünfzehn ein halb und siebzehn Stunden ist man wirklich viel zu alt für die Schule und gerade alt genug für grosse Träume. Sie warf den Turnbeutel gleich hinterher, obwohl Turnen immer ihr liebstes Fach gewesen war und kletterte zu Gregor auf den Wagen.

      „Ich bin Géraldine“, sagte sie.

      „Na also“, sagte Maika und knuffte den Jungen, „es geht doch. Man muss nur wollen!“

      „Nun müssen wir uns aber beeilen“, sagten Hasel und Birke zu Notturno, und der Nachtschwarze hatte die Güte, etwas schneller die schnurgerade Strasse entlang und hinein ins schmucke Städtchen Gruyères zu traben.

      Als der hörte, dass eine Trauung anstand, sputete sich auch der Pfarrer. Eigenhändig wollte er die Glocken läuten. Hasel und Birke aber holten ihn behände aus dem Glockenturm wieder herunter und erklärten ihm, es sei nun genug mit der Läuterei, und geheiratet werde, wie sich das für Zirkusleute gehöre, in der Manege.

      Obwohl ihm alle gut zuredeten, weigerte sich der Pfarrer eine ganze Weile, über ein angestelltes Leiterchen auf Notturnos breiten Rücken zu klettern. Endlich überzeugte ihn die offensichtliche Schläfrigkeit des schwarzen Pferdes von seiner Harmlosigkeit. Kaum sass er aber oben, wurde Notturno munter. Erstaunlich flink strebte er der Stadtmitte zu, wo der Zirkus sein Zelt aufgeschlagen hatte. Hätte ihn nicht ein schwerer hölzerner Zirkuswagen gebremst, wäre es ein flotter erster Ritt geworden für den armen Pfarrer. Im Künstlereingang zur Manege standen alle Zirkusartisten aufgereiht zum Spalier, als hätten sie Gregor und Géraldine in eben diesem Moment erwartet. Braut und Bräutigam wurden viele Male geküsst, auf die linke, die rechte und wieder die linke Wange, auf die Hände und den Scheitel. Gleich nach der kürzesten Trauung aller Zeiten hiess man Gregor in eine weisse Hose und ein weites blaues Hemd mit goldenen Sternen schlüpfen und komplimentierte ihn die Mitte der Manege. Ehe er sich’s versah, war er ein wichtiges Mitglied des „Zirkus Louis und Louise“ geworden.

      Und schon im kommenden Jahr, versprach Nonno Louis, würde er Zirkusdirektor werden und eine rote Livree tragen!

      Gregor fasste nach Géraldines Händen, küsste sie auf den Mund, zählte ganz leise bis dreiundzwanzig ein halb und beschloss, mit dem Denken aufzuhören und sich ab sofort über rein gar nichts mehr zu wundern.

      Gregor macht keinen Luftsprung

      „Wir haben auf dich gewartet“, sagte Nonno Louis und schloss den Jungen in die Arme. „Nun bist du da und wirst den ‚Zirkus Louis und Louise‘ gross machen!“

      Was war Gregor doch glücklich!

      Am liebsten hätte er einen Purzelbaum gemacht, einen Salto, den höchsten Luftsprung aller Zeiten. Er tat es nicht. Hätte er es getan, er wäre davongeflogen. Ja, da war er sich ganz sicher. Das Glück hätte ihn hinaufgetragen, hoch hinauf, bis unter die Wolken.

      Wie oft hatte er vom Fliegen geträumt. Heute, an diesem kalten Tag mit seinem blassblauen Himmel, hätte er es gekonnt!

      Stattdessen fasste er nach Nonno Louis rechter und nach Géraldines linker Hand. Zusammen spazierten sie hinaus aus der Stadt. Aus dem grauen Schneematsch wurden blütenweisse, feierliche Polster. Maika hatte Recht: das Glück kam, wenn man es am wenigsten erwartete. Tausend Ideen für erfolgversprechende Zirkusnummern fielen Gregor vor die Füsse wie reife Früchte. Und die Tiere dazu? Die Artisten? Sie würden schon kommen, die Tiere. Und auch die Artisten.

      Gregors erster Zirkusbesuch und Notturnos grosser Auftritt

      Am selben Abend sass Gregor zum ersten Mal in seinem Leben auf einer schmalen, harten Bank in einem rotweissen Zirkuszelt. Ein schwacher Geruch nach Sägemehl hing in der Luft. Gänsehaut überzog plötzlich Gregors Arme und er glaubte, die Spannung keine Sekunde länger ertragen zu können.

      Noch wusste niemand, dass er nun Zirkusartist war. Ein Artist, der noch nie ein Zirkusprogramm gesehen hatte. Ein lernendes Mitglied der Truppe. Ein Zirkusneuling, der von Programmheftverkäufern auf Stelzen, auf schmalen Bänken zusammengepferchten Zuschauern und fast unerträglich spannenden Darbietungen bis Anhin nur geträumt hatte.

      Ein junger Artist zudem, der schon sehr bald Zirkusdirektor werden würde!

      Ein kräftiger Tusch von Ettorino, dem Ein-Mann-Orchester, riss ihn aus seinen Gedanken. Ettorino spielte Trompete, Trommel, Mundharmonika und kratzte zwischendurch den Bauch des Kontrabasses. Er war mehr Clown als Virtuose auf seinen Instrumenten, und das Publikum lachte gut gelaunt.

      Jetzt schlug er die Trommel. Der Wirbel wurde lauter und immer schneller. Die Luft vibrierte. Hasel und Birke ritten auf dem prächtig herausgeputzten Notturno in die Manege. Dessen halbgeschlossene Augen sprachen allerdings von Müdigkeit und Lustlosigkeit. Er schlurfte bis in die Mitte der Manege, wo ihn Hasel und Birke mit allem beluden, was man für ein gemütliches Picknick braucht. Ein Korb mit leckerem Essen, ein Sonnenschirm, Tücher und Badehosen, ein Buch und ein Ball und sogar ein plärrendes Radio fanden auf Notturnos breitem Rücken Platz. Hasel stieg auf, Birke fasste Notturno am Halfter und versprach ihm viele Karotten und ein Bad im See. Notturno aber gähnte. Der Weg zum See war viel zu weit. Notturnos Kopf sank tiefer und tiefer. Hasel musterte ihn besorgt. Gleich würde er zur Seite kippen. Birke zog verzweifelt am Halfter. Sie drehte das Radio auf und hielt es ihm ans Ohr. Wieder gähnte Notturno, dass die Kiefer knackten. Das Publikum bog sich vor Lachen.

      Hasel stieg von Notturnos Rücken herunter und holte Ettorino zu Hilfe. Sie bedeutete ihm, mit seinen Instrumenten viel Lärm zu machen, um Notturno zu wecken. Ettorino wandte sich dem