ihn wie ein dunkles Meer umspülten. Er war ihnen ausgeliefert.
Er wollte nicht an seinen Geburtstag denken. Nein, auf keinen Fall. Noch hatte er kein Versteck gefunden für das Buch. Er wollte es so gut verstecken, dass er es selbst nicht wiederfand. Er wollte nicht an die Gespräche von vorgestern denken. Er wollte nicht daran denken, dass seine Eltern wieder einmal vergessen hatten, einen Kuchen mit Kerzen zu besorgen.
Auf der anderen Seite wollte er an seinen Geburtstag denken. Unbedingt! Immer wieder malte er sich den Moment aus, als er das Geschenk auf dem Sims entdeckt hatte. Er hatte die Hand danach ausgestreckt, die kühle, schneeverkrustete Schlaufe berührt. Er hatte den Turner ausgewickelt. Sein Herz hatte geklopft bis zum Hals. Er hatte ein Geschenk bekommen!
Gregor wollte, dass es wieder passierte. Aber er hatte erst in einem Jahr wieder Geburtstag! Gewiss, er hatte den Turner. Vielleicht bekam er nächstes Jahr einen Jongleur mit Ringen und Tellern. Einen Dompteur mit einem Tiger oder auch zweien. Aber war es nicht schrecklich, dass ein Jahr so unendlich lang war? Bestimmt bekam er auch wieder ein Buch, das er nicht lesen wollte. War es nicht schrecklich, dass ein Jahr so kurz war?
Gregor bemerkte plötzlich, wie schwarz der Morgen war. Winternachtschwarz. So schwarz wie die Wut, die in ihm brodelte. Er hätte schreien, gegen die Wand treten mögen. Er hätte gerne etwas kaputt gemacht, irgendetwas.
Ihm war heiss vor Wut und Verzweiflung, aber er musste leise sein, ganz leise. Seine Eltern durften niemals erfahren, dass er wütend war. Vermutlich hätten sie ihn in der Bibliothek mit all den schwierigen Büchern eingesperrt. Er hätte lesen müssen, lesen, lesen, lesen, bis er sich beruhigte.
Gregor kletterte aus dem Bett und öffnete das Fenster. Die kalte Luft tat den heissen Wangen gut. Als er sich auf den Sims stützte, berührte seine linke Hand einen warmen Fleck. Lange konnte das hölzerne Kästchen da noch nicht gelegen haben. Gregor spähte in den nachtschwarzen Garten, auf die stille Strasse hinaus. Im Licht einer Strassenlaterne fiel ein dichter Vorhang aus Schnee. Es war niemand zu sehen. Gregor hob das Kästchen hoch und drückte es an sich.
Der Deckel liess sich leicht zur Seite schieben. Ein tröstlicher Geruch nach frischem Holz entströmte dem Kästchen. Gregor strich den Zettel glatt, der zwischen Würfeln lag. „Zähl, Gregor, zähl!“, stand da geschrieben. Nichts weiter, nur „Zähl, Gregor, zähl!“
Gregor legte die hölzernen Würfel, von denen keiner gleich war wie der andere, nebeneinander auf den Fenstersims. Und er zählte:
„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn, elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn, sechzehn, siebzehn, achtzehn, neunzehn, zwanzig, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig.“
Er stutzte. Es gab noch einen Würfel. Allerdings sah er so aus, als sei er in der Mitte durchgeschnitten worden. Oder hatte das Holz einfach nicht mehr gereicht?
„Dreiundzwanzig ein halb“, sagte Gregor laut.
In ihm drin verebbte die Wut. Das Brodeln und Kochen wurde weniger, dann wurde er ruhig, ganz ruhig.
„Dreiundzwanzig ein halb“, wiederholte der Junge. Plötzlich war er unendlich müde. Er kroch zurück ins Bett und legte das Kästchen unters Kissen. Als es endlich zögerlich novemberhell wurde, schlief er noch immer tief und fest.
Gregor liest eine Botschaft
Murten, Weihnachten 1917
Der prächtige Weihnachtsbaum mit der rotgoldenen Spitze reichte bis knapp unter die Decke. Stille füllte das Zimmer.
Diese Stille sollte der vierzehnjährige Gregor nie wieder vergessen. Sie ging dem hässlichen Geräusch voraus, mit dem sein Vater das grosse bunte Zirkusbild, an dem er Stunde um Stunde gemalt hatte, mitten durchriss. Er riss auch gleich Gregors Freude an Weihnachten entzwei, teilte sie in immer kleinere Schnipsel. Am Ende waren sie so winzig und eisig wie die nadelspitzen Schneeflocken im Dunkel der Nacht vor den Fensterscheiben.
„Wir möchten dich heute nicht mehr sehen“, sagte Gregors Mutter mit einer Stimme, die genauso eisig und nadelscharf war wie die Schneeflocken, „du kannst deine Geschenke morgen auspacken.“
Gregor stieg leise die Treppe hinauf und schloss die Tür seines Zimmers. Er zählte langsam und nun schon geübt bis dreiundzwanzig ein halb, bevor er das Fenster öffnete und den kalten Schnee auf die heissen Wangen fallen liess. „Ich weiss nicht, was an einem gemalten Zirkus so schrecklich ist!“, sagte er in die Dunkelheit hinaus.
Falls diese Bemerkung eine Frage war, erhielt er darauf keine Antwort, aber er entdeckte, als er das Fenster schon schliessen wollte, eine Dose auf dem Sims. Sie war mit einer roten Schlaufe dekoriert, die ihrerseits mit einem gefrorenen Saum aus Schneekristallen verziert war.
Nanu, er hatte doch nicht Geburtstag. Vor knapp zwei Monaten, an seinem vierzehnten Geburtstag, hatte er bereits ein Geschenk erhalten, nach dem Turner, dem Trompeter, dem kleinen rotweissen Zirkuszelt, der doppelt geknoteten Schlange und dem winzigen schwarzen Zauberzylinder war dieses aus der Reihe tanzende Geschenk das sechste, das siebente, wenn man das Kästchen mitzählte.
Er zögerte das Öffnen der Dose noch etwas hinaus. Dabei fiel sein Blick auf eine angeheftete Karte.
„Es ist einfacher, durchs Leben zu hüpfen, als durchs Leben zu kriechen“, las Gregor. Die im Schnee zerfliessende Schrift kam ihm vage bekannt vor, aber er hielt sich nicht länger damit auf. Er öffnete die Dose, die ein winziges Trampolin und einen Trampolinspringer im Clownskostüm enthielt. Der Springer war aus Hartgummi, und wenn man ihn auf das Trampolin fallen liess, hüpfte er hoch und machte einen Salto.
Gregor verbarg das Trampolin bei den übrigen Geschenken ganz hinten in seinem Schrank. Die Karte las er wieder und wieder. „Es ist einfacher, durchs Leben zu hüpfen, als durchs Leben zu kriechen“. Den Springer steckte er als Glücksbringer in die Hosentasche. Er behielt ihn fest in der Hand, als er die Treppe hinunterging, um seine Eltern zu fragen, was an einem gemalten Zirkus Schlimmes dran sei.
Er hörte ihre aufgebrachten Stimmen durch die geschlossene Tür. Auf halbem Weg blieb er stehen und horchte. Er drehte den Trampolinspringer um und um.
„Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, dreiundzwanzig ein halb“, murmelte er vor sich hin.
Dennoch verliess ihn der Mut und er ging die Treppe wieder hinauf. Er vermied die eine knarrende Stufe und schloss ganz leise die Tür.
Maika und ein Junge als Geschenk
Gruyères, Sylvester 1917/18
Viel Zeit war vergangen, und immer Anfang November hatte Gregor zum Geburtstag ein Geschenk erhalten. Nun war er schon fünfzehn, und auf dem zerknitterten Zettel, der um das linke Vorderbein eines schwarzen Pferchens gewickelt war stand „Wer den Mut hat zu galoppieren muss nicht auf der Stelle treten.“
Gregor hatte sich nie gefragt, wer die Geschenke brachte und sie im Schneetreiben auf den Fenstersims legte. So lange er zurückdenken konnte, hatte es an seinem Geburtstag geschneit und die kleinen Zirkusgaben trugen eine hübsche, kalte Verzierung aus Schneekristallen.
„Er hat sich nie gefragt“, sagte Maika. „Er hat sich nie gefragt, wer es ist, der ihm Geschenke bringt.“ Sie lächelte und dachte voller Zärtlichkeit an den Jungen, dem sie Jahr für Jahr ein paar Glücksmomente bescherte.
„Er hat sich nie gefragt“, bestätigte Nonno Louis, „und das ist gut so, meinst du nicht?“
Maika wiegte nachdenklich den Kopf.
„Lange war es gut so“, sagte sie, „aber ich frage mich, ob es auch heute noch gut ist. Nun ist er schon fünfzehn! Sollte er nicht langsam erfahren, dass ….“
„Nächstes Jahr“, sagte Louis schnell. „Nächstes Jahr werde ich mich alt genug fühlen, um mir einen Nachfolger zu wünschen. Und Gregor wird im nächsten Jahr das genau richtige Alter haben. Mit sechzehn ist man alt genug.“
„Alt