Gerd-Rainer Prothmann

Blume des Bösen


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einer weiteren halben Stunde hörte Hans Schritte und Geräusche vor der Tür.

      Die Riegel wurden wieder zurückgeschoben und die Tür aufgeschlossen. Zwei Männer kamen herein. Das Rotgesicht und ein Großer mit kurz geschnittenen blonden Haaren. Sie führten ihn an anderen Zellen vorbei. Einmal blieben sie plötzlich stehen. Ein paar Zellen weiter brachten zwei Männer einen anderen Mann in seine Zelle zurück. Hans bemerkte jetzt den roten Strich vor ihm auf dem Linoleumboden und über seinem Kopf ein rotes Licht. Das musste eine Art Ampelanlage sein, um Begegnungen von Gefangenen zu verhindern. Vom Zellenhof kamen sie im zweiten Stock durch eine Gittertür in den zivilen Trakt des Gebäudes. Nachdem sie eine halbe Treppe hochgestiegen waren, kamen sie in einen Flur, von dem verschiedene Türen abgingen. Auf dem Flur standen Stühle. Hans wurde auf einen gesetzt. Der Blonde setzte sich neben ihn. Der andere klopfte an die Tür und verschwand dahinter, nachdem er hereingerufen worden war. Nach ein paar Minuten kam er wieder heraus, winkte Hans ins Zimmer und schloss die Tür hinter ihm. Es war ein schmuckloser Raum, bis auf das kitschig kolorierte Honeckerbild hinter dem schlichten Schreibtisch. Eine mit einer schallschluckenden Polsterung versehene Tür führte in einen Nebenraum. Außerdem gab es noch einen Aktenschrank aus Holz und einen Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand.

      Hinter dem Schreibtisch saß ein sympathisch aussehender junger Mann in einem braunen Einreiher mit Weste.

      Plötzlich hatte Hans das erste Mal während der ganzen Zeit Angst. Angst vor einer Falle, von der er nicht wusste, wann sie zuschnappen könnte.

      »Nehmen Sie doch Platz bitte«. Er hatte einen leichten Berliner Akzent.

      »Zigarette?«

      »Danke«. Hans genoss ein paar Züge einer Pall Mall ohne Filter. Er hatte sich schon oft ein paar Stangen davon im Intershop gekauft.

      »Warum sind Sie zu uns gekommen?«

      »Ich gehe gern in die Jazzschmiede«, antwortete ihm Hans verblüfft.

      »Ein Jazzfan also. Welche Richtung interessiert Sie da? Mehr Chris Barber oder Miles Davis?«

      »Es geht mehr in Richtung Miles Davis und Michael Brecker. Falls Sie den kennen.«

      »Kenne ich«, beschied ihm der junge Mann lässig, obwohl ihm Hans das nicht abnahm. Aber dann begann er tatsächlich informiert über die Frage zu diskutieren, was wichtiger wäre. Zu viel Technik wie bei Michael Brecker oder die Reduzierung auf das Wesentliche wie bei Miles Davis.

      »Und wie halten Sie es damit, wenn Sie selber spielen?«

      »Die Frage stellt sich bei mir wegen mangelnder technischer Fähigkeiten nicht in der Klarheit. Ich bin nur Amateur.«

      »Und sonst?« »Journalist.« Fast hatte Hans vergessen, wo er war. Aber sofort war er wieder hellwach.

      »Für welche Sparte schreiben Sie?«

      »Kultur, Literatur -und Theaterkritiken.«

      »Fest?«

      »Als fester Freier. Nichts Politisches«, beeilte sich Hans hinzuzufügen, um von vornherein eine Wendung zu verhindern, die diese Plauderei nehmen könnte.

      »Aber Politik ist Ihnen nicht gleichgültig?«, kam es prompt von der Gegenseite.

      »Natürlich nicht.«

      »Und das gesellschaftliche Modell auch nicht?«

      »Aber das Modell und die real existierende Variante klaffen leider weit auseinander.«

      »Wir sind noch nicht am Ziel, aber wir sind uns doch einig über dieses Ziel, den Sozialismus, die Diktatur des Proletariats.«

      »Sozialismus ja, aber ohne Diktatur.«

      »Aber Marx und Lenin haben doch deutlich gemacht, dass eine Regierung zunächst diktatorisch vorgehen muss, dass die Aufgabe dieser Diktatur die Vernichtung der Überbleibsel der alten Institutionen ist.«

      »Für mich schließen sich demokratischer Sozialismus und Diktatur aus.«

      »Das ist ein vulgär-bürgerlicher Standpunkt, wie Lenin das genannt hat. An dem Punkt haben Sie die Theorie des Klassenkampfes nicht richtig begriffen. Es geht hier um die Diktatur der Klasse zum Unterschied von der Diktatur einer Person.«

      »Für die Unterdrückten kommt es auf das Gleiche hinaus.«

      »Die sozialistische Gesellschaft ist klassenlos, da kann es keine unterdrückte Klasse geben.«

      In diesem Stil ging es eine ganze Weile weiter und Hans wurde jedes Mal ideologisch auf die Bretter gelegt. Der Mann war ihm dialektisch haushoch überlegen und schaffte es mühelos, ihm klarzumachen, dass er eigentlich doch nur ein bürgerlicher Demokrat wäre. Hans ahnte, dass er mit dieser Einschätzung eigentlich ganz richtig lag. Noch als Jugendlicher hatte er die Debatten im Bundestag nur als Wettkampf verfolgt, bei dem Polemiker wie Franz-Josef Strauß seine Sympathie hatten. Später, als er durch Willy Brandt langsam zum SPD-Anhänger wurde, hatte er immer noch Schwierigkeiten mit der unsinnlichen, vernünftelnden Ausstrahlung der Partei. Der herbergsvaterhaften Bevormundungslust ihrer Funktionäre.

      »Wenn Sie Lust haben, können Sie so oft Sie wollen, rüberkommen, und wir unterhalten uns darüber, wie man in Ihren Kreisen über diese Fragen denkt.«

      Mit einem Schlag war ihm der Grund für die Angst, die er schon vor dem Gespräch empfunden hatte, ebenso klar wie der wirkliche Grund für seine Verhaftung. Jede Regelverletzung war ein willkommener Aufhänger für eine Spitzelanwerbung. Deshalb hatte der Wärter so ruhig auf seinen Ausbruch reagiert. Genau das sollte provoziert werden. Egal wie er sich jetzt entscheiden würde, er wäre in der Falle. Sagte er jetzt Nein, genügte ein gezielter Hinweis an den bundesdeutschen Verfassungsschutz, um dort einen Verdacht auf Ostspionage zu provozieren. Jede Entscheidung konnte nur negative Folgen für ihn haben.

      Dennoch entschloss er sich stur, alles abzulehnen, was in irgendeiner Form zu einer Zusammenarbeit geführt hätte.

      »Wenn ich das gewollt hätte, wäre ich schon früher gekommen, nicht unter Zwang.«

      »Demnächst wird es ohne Zwang sein.«

      »Nein, ich habe kein Interesse daran.«

      »Sie haben 600 Mark bei sich.«

      »Ist das verboten?«

      »Sie können sich überlegen, was Sie wollen.«

      »Ich muss ja wohl nicht aussprechen, wie man das auch bei Ihnen nennt.«

      »Sie haben die Wahl.«

      »So wird Wahl bei Ihnen also interpretiert?«

      »Sie können draußen weiter überlegen.« Das erste Mal hörte Hans so etwas wie Schärfe aus den Worten des eleganten Ideologieritters heraus und er fühlte sich gleich etwas wohler dabei. Denn bei dem gespenstisch-freundlichen Gespräch über politische Positionen nach über acht Stunden Haft und Befragung hatte ihn eine lauernd-ängstliche Anspannung nie verlassen.

      Welche Folgen seine Entscheidung für die Zukunft haben würde, wollte er sich in diesem Augenblick allerdings nicht ausmalen.

      Nach einer weiteren halben Stunde wurde er in einen Raum gebracht, der zur Hälfte wie ein Bankschalter abgeteilt war. Hinter einer etwas zurückgeschobenen Glasscheibe, durch die eine scheußliche Blümchengardine schimmerte, saß eine ungeschminkte, herbe DDR-Schönheit, die deutlich den Eindruck vermittelte, jedes Lächeln wäre Klassenverrat.

      »Fünhundertachtzigmarkfünzig.«

      Ohne aufzuschauen, sammelte sie seine sechs Hundertmarkscheine ein und zählte ihm das Wechselgeld zurück und legte als krönenden Abschluss einen grünen Zettel dazu, auf dem mit Unterschrift und Stempel bescheinigt war, dass er wegen Verletzung der Grenzbestimmungen der DDR zur Zahlung des entsprechenden Ordnungsgeldes verpflichtet wäre.

      *

      So verstört hatte sie Nelson noch nie erlebt.

      Sie hatten ohne ihn anfangen