Gerd-Rainer Prothmann

Blume des Bösen


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war ein hochbegabter Autodidakt, der auf der Klarinette überhaupt keine technischen Schwierigkeiten hatte. Das Notenlesen hatte er in kürzester Zeit mit ihrer Unterstützung nachgeholt. Sie hatte ihm im DDR-Konsulat in Chile neben der chilenischen Identität auch eine als Musikstudent erfunden.

      »Komm herein, Genosse«, lud Laura den Mann mit dem blassen Gesicht ein, am Küchentisch Platz zu nehmen, was er ohne zu zögern tat und sofort eine Mappe aus seiner Aktentasche zog, die er vor sich auf den Tisch legte.

      »Darf ich dir etwas anbieten?«, fragte sie, nachdem sie die Tür geschlossen hatte.

      »Nein danke«, winkte der Mann ab, während er die Mappe öffnete und seine ineinander verschränkten Hände auf die Mappe legte.

      »Bitte«, fragte Laura, als sie sich ihm gegenüber hinsetzte, »was willst du wissen?«

      »Wie stehst du zum ersten sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden?«

      »Aber das wisst ihr doch«, entgegnete Laura verblüfft, »ihr habt mich doch gerettet!«

      »Das solltest du nie vergessen!«

      »Das tue ich auch nicht!«

      »Wie kommt es dann, dass du uns belogen hast?«

      »Wieso?«

      »Du hast uns belogen!«

      »Das habe ich nicht!«

      »Ganz arg hast du uns getäuscht!«

      Laura konnte sich nicht erklären, wer sie verraten haben könnte.

      »Ich weiß nicht, was du meinst«, klopfte sie weiter auf den Busch, immer noch in der Hoffnung, er könnte auf etwas anderes hinaus wollen.

      »Du hast uns ein Kuckucksei ins Nest gelegt. Dein Freund, der Herr Nelson Martinez, ist kein Chilene. Und er war kein Genosse der kommunistischen Partei, sondern Mitglied des M.I.R. Und vorher war er beim sendero luminoso in Peru und er ist obendrein auch noch drogensüchtig!«

      Diesen Augenblick hatte Laura befürchtet, seit sie in die DDR gekommen war.

      Der kalte graue Septembertag 1973 drängte sich wieder in ihr Bewusstsein. Die Gerüchte über einen bevorstehenden Putsch. Die von Militärfahrzeugen abgeriegelte Innenstadt Santiagos. Ihre Flucht in die kubanische Botschaft, in der schon alle Räume voller Flüchtlinge waren. Ihre verzweifelte Suche nach Nelson. Die Erzählung eines M.I.R.-Genossen über die Indumet-Fabrik im Industriegürtel Cerillos, wo sie auch schon mit Nelson gewesen war. Wo sie und Arbeiter AKA-Maschinenpistolen hingeschafft hatten für den Fall eines Putsches. Ein paar Arbeiter und M.I.R.-Leute hätten sich den Weg aus der umzingelten Fabrik freigeschossen. War Nelson unter ihnen? Lebte er noch? Vielleicht war er in die DDR-Botschaft geflüchtet.

      Das entsetzte Gesicht ihres Vaters wurde wieder lebendig, als sie ihn überredete, sie mit einem Wagen der kubanischen Botschaft in die DDR-Botschaft fahren zu lassen, um dort nach Nelson zu suchen. Wie sie ihn verletzt unter einem Deckenbündel gefunden hatte, ihn dort gesund gepflegt und für den DDR-Botschafter eine chilenische Identität erfunden hatte, weil sie wusste, dass die DDR für Mitglieder des M.I.R. keine Sympathie hegte.

      Sie verstummte vor Angst. Sie wusste nicht, wie man hier mit solch einer Verfehlung umgehen würde.

      »Wegen böswilliger Täuschung der Behörden droht euch beiden Haft.«

      Laura fing in ihrer ohnmächtigen Hilflosigkeit an, zu weinen.

      »Du könntest deinen Wiedergutmachungswillen unter Beweis zu stellen?«

      »Ich verstehe nicht.«

      »Du willst doch in Zusammenarbeit mit den Werktätigen die Feinde unserer Republik bekämpfen?«

      Laura nickte nur.

      »Du willst doch deinen Beitrag im Geiste der revolutionären Wachsamkeit leisten?«

      Obwohl sie nicht alles verstand, nickte sie weiter.

      »Wirst du künftig im Sinne der deutsch-chilenischen Solidarität mit uns zusammenarbeiten?«

      »Natürlich«, laut und es ehrlich meinend brachte sie endlich wieder ein Wort über die Lippen.

      »Dann wirst du bald von uns hören.«

      *

      Eine ganze Weile konnte Hans seine Augen nicht aufmachen. Immer wenn er es versuchte, musste er sie sofort wieder schließen, weil ihn das Licht der Neonröhre an der Zellendecke zu sehr blendete. Kaum war ihm das gelungen, wurde das Licht ausgeschaltet und nach fünf Minuten wieder eingeschaltet.

      Die Zelle war höchstens acht Quadratmeter groß. Sie war hell gestrichen. In der Nähe der Tür waren ein Spülklosett und ein Waschbecken.

      Es gab keine Fenster. Nur Glasbausteine an der Außenwand. Hans saß auf der Pritsche und versuchte, seine Fassung zurückzugewinnen.

      *

      Laura hatte Hans erzählt, es würde nichts passieren, wenn man später an die Grenze käme. Sie könnte ihn einfach noch nicht weglassen.

      Nachdem er diesen Freitag eingestiegen war und fast den ganzen Abend mitgespielt hatte, so gut wie noch nie in seinem Leben, hatte Laura ihn gebeten, noch zu bleiben.

      Nach und nach waren die Gäste und schließlich auch alle Musiker gegangen.

      Es war bereits nach halb zwölf und Hans wollte sich notgedrungen ebenfalls verabschieden. Aber Laura sagte nur »bleib« und beruhigte ihn, er bekäme keine Probleme, auch andere kämen später zur Grenze.

      Und Hans ließ sich wie ein kleiner Junge zur Bescherung führen. Sie überquerten den gepflasterten Hinterhof, der nur von einer kleinen, gelblich flackernden Birne erleuchtet wurde. Es war kalt. Der Nachtfrost hatte schon eingesetzt.

      Laura schloss die Haustür mit einem großen Schlüssel auf, der aussah, wie aus einer weit zurückliegenden Zeit. Die Treppenhausbeleuchtung funktionierte nicht. Sie schloss die Tür wieder von innen zu und küsste ihn so plötzlich und leidenschaftlich, dass er völlig vergaß, seinen Saxofonkoffer abzustellen. Dann führte sie ihn eine Treppe höher und schloss dort eine Tür auf, deren letzter Anstrich mindestens ein halbes Jahrhundert zurückliegen musste.

      Sie standen jetzt in einem kurzen Flur, von dem auf der linken Seite eine Nische mit einem runden Tisch und drei Stühlen und dahinter eine kleine Küche abging. Geradeaus führte der Flur, abgetrennt durch eine Flügeltür mit milchigen Glasscheiben, in einen großen Raum. Ein Tanzraum mit Ballettstangen vor einem großen Spiegel an der rechten Längsseite. Links im Raum lagen unter den Fenstern und an der Wand zur Küche mit braunem Cord bezogene Matratzen. Laura bat ihn, die Matratzen zu einem Bett zurechtzulegen, während sie in der Küche einen Tee machen wollte.

      Es war kalt und es roch nach Schweiß. Der Kohleofen war nicht in Betrieb. Über die Ecken des an vielen Stellen blinden Spiegels waren bunte Tücher und ausgefranste Federboas gehängt. Auf dem braunen Cordbezug gab es Wachsflecken von roten und weißen Kerzen. Auf der Fensterbank fand Hans eine halb heruntergebrannte Kerze auf einer Untertasse. Er zündete sie an und stellte sie neben das Matratzenlager.

      Sich darauf niederzulassen, widerstrebte ihm noch. Er ging stattdessen durch den ganzen Raum und schaute sich alles so intensiv an, als müsse er sich jede Einzelheit wie für ein Examen einprägen. Zuletzt blieb er am Fenster stehen und beobachtete die im Wind hin und her schaukelnde Birne im Hof, die abwechselnd den fleckigen und abblätternden Putz auf der linken Seite und die hohe Backsteinmauer auf der rechten Seite beleuchtete. Laura trug den fertigen Tee auf einem marokkanischen Messingtablett herein, das sie auf den Boden stellte. Danach ging sie gleich wieder hinaus und kam dann nach einer Weile nur mit einem knappen Slip und Büstenhalter bekleidet wieder herein. Auf dem Arm hatte sie zwei Bettlaken und eine graue Wolldecke. Die praktische Selbstverständlichkeit, mit der sie alles vorbereitete, machte Hans noch verlegener als er ohnehin schon war.

      »Venga, komm!«, sagte sie nur, als sie die Laken und die Wolldecke wie ein französisches Bett vorbereitet