Gerd-Rainer Prothmann

Blume des Bösen


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sehr gut kennst, weißt du, wo ich bin. Wenn nicht, musst du dich hinten anstellen und es noch einmal versuchen.«

      »Das muss ja sehr dringend gewesen sein«, riss ihn seine Frau aus der Erinnerung, »wenn du die Nummer immer parat haben musst.«

      Was für ein Trottel er doch war. Sie hatte natürlich auf Wahlwiederholung gedrückt.

      *

      Er musste es endlich schaffen, sich wirklich erwachsen zu verhalten.

      Das hatte Hans sich zu Beginn dieses Freitagabends vorgenommen.

      Hannah hatte den ganzen Tag außer Haus zu tun gehabt. Sie bereitete gerade eine Modenschau vor, bei der die Mannequins ihre Schmuckkollektion tragen sollten.

      Die letzten beiden Wochen war sie aus ihrer Werkstatt kaum herausgekommen.

      Damit der Haushalt weiterhin reibungslos lief, hatte sie ihm überall kleine Zettel hin geklebt.

      Wenn sie zwischendurch aus ihrer Werkstatt auftauchte, fragte sie ihn nur kurz ab, was er von den aufgeschriebenen Aufgaben schon abgearbeitet hatte.

      Hans bewunderte ihr Organisationstalent und die souveräne Freundlichkeit, die sie dabei behielt. Eine Bewunderung, die bei geschätzten Arbeitskollegen allerdings auch nicht anders ausgesehen hätte.

      Dabei hatte Hannah als Frau für ihn auch nach der Geburt des zweiten Kindes keineswegs ihren Reiz verloren. Sie hatte ihre schlanke Leichtathletinnenfigur behalten.

      Sie kleidete sich sportlich elegant mit einem raffinierten Touch von Nachlässigkeit. Die Fülle ihrer positiven Eigenschaften, über die er nachdachte, während er das Abendbrot für die Kinder zubereitete und ihr Einsatz für ihre Beziehung war erdrückend, wenn er es mit dem verglich, was er außer seinem Gehalt dazu beitrug.

      Er verhöhnte sich selbst wegen seiner Aufgeregtheit, die ein langer Blick aus den grünen Augen einer farbigen Sängerin bei ihm ausgelöst hatte.

      Völlig verblödet hatte er sich vor zwei Wochen verhalten, als er sinnloserweise 20 Minuten im kalten Auto gewartet hatte, nur um sie dann mit einem anderen Mann davonfahren zu sehen.

      Zwei Wochen war er vernünftig geblieben. Das Telefon klingelte. Sein Kollege für die Filmkritiken bat ihn um Hilfe.

      Eigentlich sollte er eine Kritik über die Premiere von Ödipussi von Loriot schreiben, die gleichzeitig in Ost- und West-Berlin stattfinden sollte. Aber er musste unbedingt zu seiner kranken Mutter.

      Er bat Hans, für ihn einzuspringen.

      Hans sagte sofort zu. Eine rauschhafte Erregung ergriff ihn. Er würde nicht zur Premiere gehen. Er hatte die Vorpremiere schon gesehen. Er würde nach Ost-Berlin fahren und sie heute ansprechen.

       *

      Mario ging ihr nicht aus dem Kopf.

      »Zerbrechlich wie ein Seiltänzer

      Über den Dächern von Barrancas

      Spielte der kleine Luchín.

      Mit seinen blauen Händen

      Mit dem Stoffball,

      Mit der Katze und mit dem Hund.

      Das Pferd schaute ihm zu.«

      Lauras kräftige Stimme übertönte das Kindergeschrei, das damals aus dem Ballettsaal der Technischen Universität drang, wohin man Kleinkinder aus einer población von Santiago gebracht hatte, deren Eltern durch einen Sturm obdachlos geworden waren.

      Es war die erste Strophe des Liedes, das Victor Jara, der nach dem Militärputsch im Stadion von Santiago ermordete Sänger, über eins dieser Kinder geschrieben hatte.

      Laura stimmte gerade die zweite Strophe an:

      »Im Wasser seiner Augen

      Spiegelt sich das klare Grün«,

      als hinter ihr eine männliche Stimme die gleichen Zeilen mit leicht verändertem Text sang:

      »Im Wasser ihrer Augen

      Spiegelt sich das klare Grün.«

      Sie drehte sich um und blickte in das Gesicht eines jungen Mannes, das gleichzeitig Herausforderung und Schüchternheit ausdrückte. Der große Lockenkopf wurde von einem schlanken etwas kurz geratenen Körper getragen.

      Die spontane Umwandlung des neuen Liedes in ein Kompliment für ihre Augen gefiel ihr.

      »Ich bin Mario. Mario Lavelli«, stellte er sich mit einer ironisch angedeuteten Verbeugung vor.

      »Laura Canela«, erwiderte sie nur knapp. Ohne ihm die Hand zu geben, wartete sie ab, wie das Spiel weitergehen würde.

      »Ich weiß«, lächelte er sie an.

      »Was?«

      »Dass du Laura Canela heißt und eine fantastische Sängerin bist.«

      »Und was weißt du noch?«

      »Dass du aus Kuba bist.«

      »Dann weißt du auf jeden Fall mehr als ich über dich«, sagte Laura schnippisch und wandte sich ab, als wollte sie weitergehen.

      Obwohl Mario fast einen Kopf kleiner war, gefiel ihr der Chilene ganz gut, aber sie hatte Spaß daran, ihn zappeln zu lassen.

      »Ich mag Musik«, warf er ihr hinterher, als wäre das eine Erklärung für das, was er über sie wusste.

      »Vor allem Musikerinnen«, lachte Laura, während sie weiterging.

      »Nur, wenn sie so hübsch sind wie du!«, sagte er ihr ins Gesicht, nachdem er sie mit kurzen raschen Schritten überholt hatte.

      Laura gefiel dieses Spiel.

      Ein Spiel, das sie in Kuba oft und virtuos gespielt hatte, und das sie, seit sie nach Chile gekommen war, schon fast vergessen hatte vor lauter revolutionären Projekten von Künstlern für arme Leute.

      »Und was machen wir jetzt?«, fragte sie ihn provozierend.

      »Zunächst einen Kaffee trinken«, antwortete er ihr trocken.

      »Café café?«, fragte sie spöttisch auf die chilenische Gewohnheit anspielend, dass »café« alleine nur Nescafé im Gegensatz zu echtem bedeutete.

      »Café café natürlich«, meinte er etwas überheblich.

      Als sie zusammen in der Mensa saßen, erfuhr sie, dass er an der Technischen Universität ein Ingenieurstudium machte, dass seine Eltern aus Italien, aus Sizilien stammten und in Viña del Mar lebten, und dass er im Sommer häufig die Wochenenden nutzte, um nach Hause ans Meer zu fahren.

      »Das Meer habe ich schon lange nicht mehr gesehen«, entfuhr es Laura.

      »Dann nehme ich dich das nächste Mal mit«, kam prompt das Angebot.

      Lauras Vater mochte ihn nicht. Als Mario am folgenden Freitag mit seinem Jeep vorfuhr und in seinem weißen Sommeranzug heraussprang, meinte er abfällig, »wo hast du denn das Söhnchen aufgegabelt?« Laura musste zugeben, sie hätte bei einem solchen Auftritt eines Fremden genauso reagiert.

      Ihre Mutter dagegen, die formvollendet einen großen Rosenstrauß überreicht bekam, war sofort überwältigt. Sie hatte ohnehin begonnen, das privilegierte Leben als Gattin eines leitenden Botschaftsangestellten ohne Skrupel zu genießen.

      Die Art und Weise, wie der Vater nach Marios Studium und nach seinen Zukunftsplänen fragte, verriet Laura, dass er mit seinem Urteil über ihn längst fertig war und nur Fallen aufstellte, um Beute für seine Voreingenommenheit zu machen.

      Aber Mario war geschickt. Er beantwortete alles schnell, witzig und charmant.

      Laura ärgerte sich über ihren Vater. Zum ersten Mal empfand sie Distanz zu ihm.

      »Dein Vater hält mich für einen Momio«, sagte Mario lächelnd, als sie auf dem Weg nach Viña waren.