Gerd-Rainer Prothmann

Blume des Bösen


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      Sie hatte sich und die sechs Kinder alleine durchbringen müssen und war von Tabakernte zu Zuckerrohrernte als Wanderfamilie über die Insel gezogen.

      Doch nie hatte sich Mama Esmeralda vor ihrer Enkelin beklagt und nie hatte sie sich wieder mit einem Mann eingelassen.

      Das hat Laura schon als kleines Mädchen imponiert.

      Über den Großvater hatte Laura von ihrer Großmutter dennoch kein böses Wort gehört. Er hatte Mama Esmeralda verlassen und sie hatte ihn konsequent vergessen. Der Comandante wurde der einzige Mann, den sie nach der Revolution kritiklos verehrte. Durch ihn wären die Schwarzen erst zu vollwertigen Menschen geworden.

      Als sie wieder auf der Bühne des Jazzkellers war, ärgerte sie sich über das beginnende Bröckeln ihrer Konsequenz, das auch Mario bemerkt haben musste. Sie redete sich ein, es wäre nur Neugierde auf das Leben Marios nach ihrer Trennung. Aber sie wusste, dass sie sich selbst belog. Sie schaute unauffällig in Richtung seines Platzes. Er war noch da. Er hatte nichts von seiner Attraktion verloren.

      Aber eine für sie unerklärliche Empfindung war dazu gekommen, eine Empfindung, für die Misstrauen schon ein viel zu starkes Wort war. Bei aller charmanten Wendigkeit steckte in Mario eine gnadenlose Energie. Eine Gefährlichkeit, die sie früher an ihm noch nicht bemerkt hatte. Aus dem schlagfertigen Studenten von damals war ein immer noch liebenswürdiger Mann geworden. Allerdings mit einer unbeirrbaren Zielstrebigkeit, die keinen Widerspruch dulden würde. Sie fühlte sich ihm gegenüber nicht mehr ebenbürtig.

      Suche nicht nach mir, denn ich werde dich schon vergessen haben. Fast beschwörend hatte sich diese Zeile in ihrem Kopf festgesetzt. Beinahe hätte sie sie gesungen. Aber, sie würde sich am Schluss des Konzerts Marios Adresse und Telefonnummer geben lassen und sich mit ihm verabreden.

      »Born To Lose«, sagte jemand hinter ihr. Es war die sanfte Stimme von Nelson, dem peruanischen Klarinettisten der Band. Sie schaute ihn an und versuchte, seinen starren schwarzen Augen abzulesen, ob er mit der Nennung dieses Titels irgendetwas andeuten wollte. Aber es gelang ihr nicht. So sang sie als Nächstes den alten Ray-Charles-Hit, dessen Text sehr wohl auch Nelsons Verlustängste ausdrücken könnte.

      *

      »Ein raffiniert ausgeklügeltes ästhetisches Konzept lässt leider jeden Ausdruck für Gefühle vermissen.

      Damit reiht sich auch diese Aufführung teilweise in die Serie der scheiternden Produktionen der Freien Volksbühne ein. Wenn auch als die Interessanteste.«

      Zufrieden schrieb Hans den letzten Satz seines Halbverisses über die Premiere von »Leonce und Lena« in seinem Bericht über die letzte Spielzeit an der Freien Volksbühne Berlin.

      Er gehörte nicht zu den Kritikern, die Vergnügen an vernichtenden Formulierungen hatten, wie manche seiner Kollegen. Er kam auch bei Verrissen ohne Polemik aus. Vielleicht war auch nur sein nicht zu unterdrückendes Harmoniebedürfnis stärker ausgeprägt, als es für einen Kritiker zuträglich war. Zum Starkritiker würde er es so nicht bringen.

      Er steckte sich eine Zigarette an und las seinen Text Korrektur. Als er damit fertig war und die Kritik zum Druck weitergegeben hatte, lehnte er sich in seinem Arbeitssessel zurück, schaute über die schmuddelige Potsdamer Straße und rauchte noch eine.

      Er war ganz zufrieden mit sich. Wer hätte jemals vorausgesagt, dass der Sohn eines kleinen Verwaltungsangestellten aus einem Heidedorf ohne Kultureinrichtungen einmal zum respektierten Feuilletonredakteur einer Berliner Tageszeitung werden würde.

      Seine Eltern verbanden mit Kultur gar nichts. Weder die ignorante Verachtung neureicher Banausen noch die geheuchelte Hochachtung gehobener Kleinbürger.

      Sie hatten es einfach hingenommen, dass ihr Sohn Germanistik studieren wollte, nachdem er auf dem Gymnasium schon für die Schülerzeitung kleine Artikel geschrieben hatte.

      Als er dann seinen Dr. phil. hatte, waren einige seiner Verwandten nicht von der Vorstellung abzubringen, er wäre nun Arzt für spezielle Krankheiten, aber seine Eltern waren dennoch stolz auf ihn, obwohl er kein Arzt war. Alles war so unglaublich glatt gelaufen, dass Hans sich die vielen Ausbrüche aus seiner Ehe vor sich selbst als Ausdruck einer unausgelebten Abenteuersehnsucht entschuldigte.

      Als Kind war er manchmal im Herbst bei Nebel nachts heimlich aus dem Fenster seines Kinderzimmers gestiegen und war durch das völlig ausgestorbene Dorf gestreift. Er fand es aufregend, ohne zu wissen warum. Vielleicht waren das schon seine ersten Abenteuerversuche.

      Als er auf der Internatsschule war, hatte ihn ein Mitschüler einmal zu Weihnachten zu sich nach Hause eingeladen. Das ganze Haus war dort voller Besucher. Jedes der drei Kinder hatte jemanden einquartiert. Hans war fasziniert von der Offenherzigkeit der Eltern, die locker und selbstverständlich mit dieser Situation umgingen.

      Die ältere Schwester hatte eine Studienkollegin zu Besuch. Eine sehr hübsche und grazile Mulattin aus Martinique. Obwohl Hans damals schon drei Jahre Französisch auf der Schule hinter sich hatte, brachte er beim Anblick der Karibikschönheit keinen brauchbaren französischen Satz über die Lippen. Er konnte sie nur anstarren und mühsam ein paar Worte wie Comment ça vas und Ähnliches stammeln. Aber dieser Anblick hatte in ihm einen Drang nach Fremdheit und Exotik geweckt, dem er später immer wieder erliegen sollte.

      Wie sehr diese Neigung ihn doch als Provinzheini auswies. Er musste über sich selbst lächeln, als das Telefon ihn unterbrach.

      »Bist du noch in der Redaktion?«

      »Wo sonst?«, fragte er eine Nuance zu barsch zurück. Bei seiner Frau Hannah war er immer auf der Hut, nicht bei einer Lüge ertappt zu werden. Sie hatte allen Grund, misstrauisch zu sein.

      »Wie blöd von mir. Ich hab dich da ja schließlich dort angerufen«, tadelte sie sich gut gelaunt selbst. »Ich wollte nur wissen, wann du zum Essen kommst?«

      »Sofort, ich bin gerade fertig.« Er freute sich auf seine Frau und auf die Mädchen.

      Obwohl sie selbst arbeitete, hatte sie den Tisch liebevoll dekoriert und sehr gelungene italienische Pasta gekocht.

      Die Kinder waren schon im Bett und sie tranken noch ein Glas Montepulciano zusammen. Hans war gesättigt und zufrieden. Sie schaute ihn lächelnd an und fragte ihn ohne Arg, ganz nebenbei, ob denn Katharina Koch eine Kollegin von ihm wäre.

      Alle seine Sinne schalteten sofort auf Alarm. Die Pause, die er brauchte,

      um sich Erklärungen auszudenken, dauerte einen kleinen Augenblick zu

      lange.

      »Nein, das ist nur eine junge Schauspielerin von der Freien Volksbühne«, sagte er schließlich so obenhin, wie es ihm gelang. Es gelang ihm nicht besonders gut.

      »Ach nur«, machte sie sich über ihn lustig, »was wolltest du denn von ihr?«

      »Wieso?«, stammelte er. Fast panikartig vergegenwärtigte er sich die Geschichte. Er hatte sie gestern auf der Premierenfeier kennengelernt, bei der er sich intensiv mit einer Dramaturgin unterhalten hatte. Katharina Koch und eine andere junge Schauspielerin waren ein paar Mal um sie gekreist, wobei ihn Katharina hemmungslos an geflirtet hatte. Es war ihm immer schwerer gefallen, sich auf das Gespräch mit der Dramaturgin zu konzentrieren. Er hatte schließlich das Gespräch beendete und war regelrecht geflüchtet, obwohl er sich geschmeichelt fühlte. Das Mädchen war fast zwanzig Jahre jünger als er. Aber er war hier zu bekannt. Vor der Tür hatte sie sich ihm einfach in den Weg gestellt. »Ich wollte Sie schon immer kennenlernen«, hatte sie ihn angelächelt, »ich habe schon viel von Ihnen gelesen.« Sie meinte seine Kritiken. »Na, so lange können Sie ja noch nicht lesen«, hatte er den halbherzigen Versuch gemacht, ins Väterliche auszuweichen. Aber die schönen hellblauen Augen und der sinnliche auffordernde Mund des Mädchens hatten etwas anderes verlangt. Er hatte sie in eine dunkle Ecke gezogen und dort waren sie knutschend übereinander hergefallen. Im Taxi, mit dem er sie nach Hause gebracht hatte, war es ebenso weitergegangen wie vor ihrer Haustür, wo sie ihn dann aber plötzlich gestoppt hatte und ihn nicht mit hineingenommen hatte.

      Heute Morgen, bevor