Reinhard Warnke

Erinnerungen an 60 Jahre Weltgeschichte


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der Decke und ich wusste, dass ich mich nur lautstark bemerkbar machen müsste, wenn mir etwas fehlen sollte. Mit einem Schlag war es jedoch vorbei mit der Ruhe an diesem Sonntagnachmittag des 04. Juli 1954. Scheiben zersplitterten und Lampen fielen von der Decke. Die Menschen fielen über sich her, schrien und weinten. Was war geschehen? Eine Bombe war eingeschlagen. Diesmal aber nicht wie noch neun Jahre zuvor in irgendeinem Haus irgendeiner europäischen Stadt, sondern Zentimeter vorbei an den Fingern von Gyula Grosics, dem Torwart der Ungarischen Fußball- Nationalmannschaft. So oder so ähnlich mag es gewesen sein, als Helmut Rahn, der Rechtsaußen von Rot-Weiß Essen, im Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft in der Schweiz das 3:2 gegen die für unschlagbar gehaltenen Ungarn geschossen hatte. Es gab sicherlich kein Radiogerät in Deutschland, dass in diesem Moment nicht eingeschaltet war und aus dem die sich überschlagende Stimme des legendären Rundfunkreporters Herbert Zimmermann schallte, der von einem Fußballgott namens Toni berichtete, als der deutsche Torwart Toni Turek aus Düsseldorf tollkühn gegen den ungarischen Ausnahmefußballer Ferenc Puskas rettete und wenig später schrie: „Aus, aus, aus, das Spiel ist aus!! Deutschland ist Weltmeister!!!“. Auch ich werde seine Freudenschreie wahrscheinlich vernommen haben. Mit meinen gerade einmal eineinhalb Jahren habe ich die Bedeutung dieses Ereignisses aber nicht so wirklich einordnen können und um ehrlich zu sein, so richtig erinnern kann ich mich nicht daran. Aber für mich war es wohl die erste Begegnung mit der Faszination Fußball.

      Für die Menschen in Deutschland, die diesen Endspielsieg gegen Ungarn bewusst miterlebt hatten, war es jedoch viel mehr als das banale Ergebnis in einem sportlichen Wettbewerb. Es ging ein kollektiver Jubelsturm durch eine ganze Nation, die mit allem Eifer, aber voller Depressionen angefangen hatte, das nach dem schrecklichen Zweiten Weltkrieg zerstörte Land wieder aufzubauen. Ob bewusst oder unbewusst, ob aktiv oder nur duldend. Alle wussten, dass sie sich mitschuldig gemacht hatten an dem, was ihr Führer und seine Schergen unter ihrer Mithilfe angerichtet hatten. Und jetzt war ihr Land sensationell, gegen einen für übermächtig gehaltenen Gegner, Fußball-Weltmeister geworden. Stolz verkündeten die Deutschen Zeitungen: „Wir sind wieder wer“! Fußball – die schönste Nebensache der Welt. Nicht einmal zehn Jahre war es her, dass der Zweite Weltkrieg geendet hatte und Deutschland am Boden lag.

      2 Das Ende des Schreckens

      Spätestens im Frühjahr des Jahres 1945 hätte eigentlich auch dem letzten fanatischen Hitler-Jungen klar geworden sein müssen, dass Deutschland den Krieg verlieren würde und dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis der 2. Weltkrieg in Europa beendet sein würde. Schon lange gab es keine Front mehr und die Deutsche Wehrmacht war aus den besetzten Gebieten weit in das eigene Reich zurück gedrängt worden. Im März hatten die alliierten Soldaten den Rhein überquert und damit den entscheidenden Schritt zur Besetzung des Deutschen Reiches genommen. Auch Hitler war mittlerweile klar, dass der Kampf verloren war, aber immer noch forderte er von den Soldaten, dass sie bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen hätten. Die Wehrmacht erhielt den Befehl, dass sie bei ihren Rückzügen Industrie und Infrastruktur gründlich zerstören sollte. In einem vertraulichen Gespräch mit Albert Speer, der von ihm im Jahr 1937 zum Generalbauinspektor ernannt worden war und ab 1942 den Posten des Rüstungsministers inne hatte, machte Hitler deutlich, dass er enttäuscht sei von Deutschland und seinen Soldaten, die nicht in der Lage gewesen waren, die feindlichen Armeen entscheidend zu schlagen. Jetzt wolle er dafür sorgen, dass Deutschland mit ihm zusammen untergehen werde. Er war ein absoluter Psychopath und das nicht erst zu diesem Zeitpunkt. Albert Speer pflegte „zu seinem Führer“ bis dahin ein fast freundschaftliches Verhältnis. In einem Brief an Hitler fasste Speer den Gesprächsinhalt zusammen mit der Fragestellung, ob er die einzelnen Passagen der Unterhaltung richtig verstanden habe. Speers Zusammenfassung des Gespräches mit der Aussage des Führers, dass Deutschland mit ihm zusammen untergehen werde, wurde von Hitler nicht dementiert. Speer versuchte, in der Folgezeit die angeordnete Zerstörung der Industrieanlagen zu verhindern, was ihm teilweise auch gelang, indem er durchsetzen konnte, dass die Anlagen nur vorübergehend zu „lähmen“ seien.

      Am 25. April 1945 erreichten sowohl die amerikanischen wie auch die sowjetischen Truppen die Elbe. Von Hamburg aus kommend rückten die britischen Truppen in Richtung Berlin vor. Die Hauptstadt war damit umzingelt. Fünf Tage später nahm sich Adolf Hitler zusammen mit seiner Lebensgefährtin Eva Braun, die er wenige Stunden zuvor geheiratet hatte, in seinem Führerbunker das Leben. Zuvor hatte er testamentarisch Großadmiral Karl Dönitz, den Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, zu seinem Nachfolger als Staatsoberhaupt bestimmt. Von Flensburg aus zögerte Dönitz die Kapitulation hinaus, um möglichst vielen Soldaten und Zivilpersonen die Flucht aus dem Osten zu ermöglichen. In den Morgenstunden des 07. Mai 1945 unterzeichnete dann Generaloberst Alfred Jodl die bedingungslose Kapitulation aller deutschen Truppen. Einen Tag später wurde von Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel die Kapitulationsurkunde ratifiziert. Damit war der 2. Weltkrieg und die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten in Europa zu Ende gegangen. Der von Hitler und seinem Regime angezettelte Krieg hatte unermessliches Leid, Tod und Zerstörung über weite Teile Europas gebracht. 39 Millionen Menschen wurden in Europa durch die Kriegseinwirkungen getötet. Im Laufe der nationalsozialistischen Diktatur des Dritten Reiches verloren zudem rund 5,6 Millionen Juden ihr Leben, die infolge eines krankhaften Rassenwahns grausam ermordet wurden, die Hälfte davon in Vernichtungslagern. Noch aber befanden sich Japan und die USA im Kriegszustand. Die Kapitulation der Japaner am 02. September 1945 wurde erst durch den Abwurf der ersten Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki erzwungen. Erst jetzt war der 2. Weltkrieg endgültig beendet. In Asien kamen 16 Millionen Menschen durch den Krieg ums Leben.

      Mit der bedingungslosen Kapitulation hatte der deutsche Staat aufgehört zu existieren. Bereits während des Krieges hatten die Kriegsgegner in verschiedenen Konferenzen über die Zukunft Deutschlands nach Kriegsende diskutiert. Auf der Außenministerkonferenz 1943 in Moskau wurde vereinbart, dass nach der Besetzung Deutschlands eine alliierte Kontrollkommission als Regierung errichtet werden soll. Deutschland sollte entmilitarisiert, entnazifiziert und demokratisiert werden. Auf der Konferenz von Jalta zwischen dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, dem britischen Premierminister Winston Churchill und dem sowjetischen Regierungschef Josef Stalin wurde die bedingungslose Kapitulation Deutschlands, Gebietsabtretungen, die Zerschlagung des Nationalsozialismus und des deutschen Militarismus, die Aburteilung der Kriegsverbrecher sowie Reparationen gefordert. Außerdem beschlossen die Staatsoberhäupter, dass Deutschland in vier Besatzungszonen aufgeteilt werden soll und eine Zentralkommission in Berlin eingerichtet wird. Auf der Gipfelkonferenz nach Beendigung des Krieges im Potsdamer Schloss Cecilienhof vom 17. Juli bis zum 02. August 1945 verhandelten die Regierungschefs und Außenminister der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und der Sowjetunion unter anderem über das endgültige Schicksal Deutschlands. Es wurde beschlossen, dass die Vereinbarungen der Konferenz von Jalta durch Bildung eines Alliierten Kontrollrats verwirklicht werden solle, der aus den Oberkommandierenden der Besatzungsmächte als die oberste Regierungsgewalt bestehen müsse. Die deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße sollten von Polen, der Nordteil Ostpreußens von der Sowjetunion verwaltet werden. Die endgültige Festlegung der deutschen Grenzen sollte in einem Friedensvertrag geregelt werden, zu dem es jedoch im Laufe des „Kalten Krieges“ nie gekommen ist. Regelungen zu der Ostgrenze Deutschlands wurden im Jahr 1970 schließlich in dem deutsch-polnischen Vertrag und dem deutsch-sowjetischen Vertrag getroffen. Das Konferenzzimmer im Schloss Cecilienhof, in dem Truman, Stalin und Churchill (ab 28.07.1945 C. Attlee) im Rahmen der „Potsdamer Konferenz“ über das Schicksal Deutschlands verhandelt hatten, ist heute ein Museum. Als ich diesen Raum im Frühjahr 2001 als Museumsbesucher betrat, verspürte ich einen Hauch von Ehrfurcht, denn es handelt sich zweifellos um einen der historisch bedeutsamsten Räumlichkeiten des 20. Jahrhunderts.

      3 Trizonesien

      Deutschland war jetzt also in vier Besatzungszonen aufgegliedert, wobei die Zuständigkeit für den Osten, also der späteren DDR, an die Sowjetunion fiel, während im Westen die Besatzungszonen auf die USA, Großbritannien und Frankreich aufgeteilt worden sind. Norddeutschland, also auch das Dorf in dem ich aufwuchs, wurde britische Besatzungszone. Ich kann mich erinnern, dass mein Patenonkel, der in einem Nachbarort wohnte und dort ein kleines Bauernhaus hatte, häufig von