T.F. Carter

Begegnungen


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lackierte Fingernägel hatte. Er umklammerte immer noch ihr verletztes Bein, bemühte sich, es in dem Chaos stets nach oben zu halten, während sie den Hang hinunterrollten. Endlich kamen sie zum Halt, ein menschlicher Knoten, mussten lachen. Auch Caroline und Sebastian, erleichtert, dass sie noch lebten, kicherten nun. Die anderen Wanderer machten, dass sie an den Irren, die sich die Almwiese hinunterwarfen, so schnell wie möglich vorbeikamen.

      Wenig später waren sie, ohne weitere Stürze, an der oberen Hütte angekommen. Matthias‘ Beine waren schwer wie Blei, seine Knie schmerzten, das Gewicht auf seinem Rücken schienen Tonnen zu sein, obwohl es eine Frau war, die massemäßig bestenfalls als Floh zu bezeichnen war. Sie setzten sich auf eine Bank vor der Hütte, starrten auf den Fahrweg vor ihnen. Von hier gingen Caroline und Matthias alleine weiter, den gleichen Weg wie schon am Tag zuvor.

      An der unteren Hütte sahen sie einen Geländewagen, und ein Schäferhund lief in dem Gatter vor dem Gebäude hin und her, sie bereits erwartend. Hier gab es Hilfe! Hier würde jemand sein, der Julia wenigstens bis ins Hotel führe, und von dort aus kämen sie schon selbst ins Krankenhaus. Sie erreichten das Gatter, waren schon dabei, es zu öffnen, als sie bemerkten, dass der Hund keineswegs besonders begeistert von ihren Besuch zu sein schien. Böse bellte er sie an, fletschte die Zähne. Nichts rührte sich sonst, obwohl es ihnen schien, als hätten sie eine leichte Bewegung hinter den Fenstern der Hütte wahrgenommen.

      Es half nichts. Matthias wagte sich in das Gatter, legte die Meter bis zur Eingangstür zurück, musterte den Hund, der ihn wütend umkreiste. Immerhin ließ er ihn doch zum Eingang. Er klopfte, wartete, vernahm nach einer Unendlichkeit Geräusche im Inneren. Die Tür wurde geöffnet, und wenn es ein Klischee für Bewohner von Schweizer Alpenhütten gab, dann entsprach die Gestalt diesem in allen Punkten. Wache Augen blickten ihn aus einem verwitterten Gesicht an, ein weißer Bart ließ nur erahnen, wo sich ein Mund befinden könnte. Auf dem Kopf thronte ein Filzhut, die Kleidung war grob und zweckmäßig. Ein Almöhi! stellte Matthias‘ Unterbewusstsein sachlich fest. Das ist ein Almöhi. Er erfüllt sämtliche Kriterien der Almöhischaft.

      Der Hund knurrte, der Mann vor Matthias sagte nichts, erwiderte auch nicht seinen Gruß. Der Hilfesuchende bemühte sich, sein Anliegen so schnell und so komprimiert wie möglich zu vermitteln: „Eine Freundin von uns… Unfall… Fuß kaputt… oben auf der nächsten Hütte… Hotel… Auto… Hilfe?“

      Lange schon schwieg er nun, während der Mann immer noch seinen Blick in seine Augen bohrte. Konnte er Gedanken lesen? grübelte Matthias. Konnte der Almöhi sehen, dass er die Situation gleichzeitig als bizarr, erheiternd und beklemmend empfand? Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, wendete der Almbewohner sich ab, ging zurück in die Hütte, schloss die Tür. Der Hund knurrte, bedeutete seinem ungeliebten Besucher unmissverständlich, dass es nun an der Zeit sei, diesen Ort zu verlassen.

      Caroline öffnete ihrem Freund das Gatter, schlug es nur knapp vor dem nun zornig schnappenden Hund zu. Ratlos starrten sie auf die Hütte. Ihnen war gleichzeitig nach Lachen und nach Weinen zumute.

      Und da! Da öffnete sich die Tür, und heraus trat der schweigsame Hüttenbesitzer. Tätschelte dem Hund den Kopf, durchquerte das Gatter, ohne das Pärchen eines Blickes zu würdigen, ging zu seinem Auto, stieg ein und fuhr den holprigen Weg zur zweiten Hütte empor.

      „Oh mein Gott!“ entfuhr es Matthias, und er muss kichern.

      „Du hast vielleicht zu schnell gesprochen“, mutmaßte Caroline. „Er hat deine Information gespeichert und musste sie erst langsam, Schritt für Schritt, verarbeiten.“ Matthias war bis zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt, dass Caroline Affinitäten zur Computertechnologie hätte, aber er nahm sich vor, diese Einschätzung zu überdenken.

      Frisch beschwingt eilten sie nun ihrem Hotel entgegen, wurden nach ein paar Minuten von dem Auto überholt, aus dem ihnen Sebastian und Julia zuwinkten.

      Schließlich, nach einem anständigen Restmarsch, erreichten sie ihre Unterkunft. Carolines Auto war nicht an seinem Platz.

      „Sie werden doch wohl nicht…“, begann sie zornig.

      „Sie werden doch“, bestätigte ich ihre schlimmsten Befürchtungen. „Schau‘ mal, bis wir hier sind, sind die schon zweimal bis zum Krankenhaus und zurück.“

      „Und wo sind sie dann, wenn es denn so wäre?“ Herausfordernd atomisierte sie seine Logik und zeigte auf den leeren Parkplatz.

      Er bemühte sich, sie zu besänftigen, während sie um ihr Auto zitterte. „Schau‘ mal, auf der Strecke sind kaum Laternen, nur ein paar schlecht befestigte Serpentinen. Es kann also gar nichts passieren. Und einschlafen wird er schon nicht.“

      „Man kann nie wissen…“, grübelte sie vielsagend und schritt schließlich voran, ins Hotel hinein.

      Nach der Rückkehr von Sebastian und Julia wurde dieses Thema glücklicherweise nicht mehr bemüht. Viel zu spannend waren die Berichte über die Fahrt abwärts zum Hotel. Der Transport hatte in völliger Wortlosigkeit stattgefunden, nur am Ende hatte der Retter unmissverständlich und unzweideutig die Hand aufgehalten.

      „Vielleicht war er ja stumm“, überlegte Caroline.

      „Bestimmt nicht“, lachte Sebastian. „Er hat mit einem Dorfbewohner vor dem Haus durchaus gesprochen. Mit uns allerdings nicht.“

      Roter Nagellack und heilige Rollstühle

      Die Diagnose hatte einen Bänderriss ergeben, Julia besaß nun einen bandagierten Fuß. Für die mehr als zwei verbliebenen Wochen würde sie an Krücken gehen müssen. Der Wanderurlaub war für sie vorbei. Caroline und Matthias wechselten bedeutungsschwangere Blicke, während Julia verlautbaren ließ: „Ach, das macht nichts. Ich kann hier lesen und Essen vorbereiten, während ihr zu dritt wandert.“ Sie lachte, deutete auf Krücken und Rollstuhl, Equipment des Krankenhauses: „Ich bin ja vollständig mobil hier.“

      Sie beschlossen einen Stadtrundgang in Bern, fuhren am nächsten Tag bei glühendem Sonnenschein ins Tal, erreichten problemlos ihr Ziel (manchmal ging es auch ohne Un- oder sonstige Zwischenfälle), entluden den Rollstuhl, und los ging es. Frohgemut schob Sebastian seine Julia, sie freuten sich auf einen schönen Stadtrundgang.

      Doch schnell lernten sie, was barrierefrei im wahrsten Sinne des Wortes bedeutete. Und Bern war alles andere als barrierefrei. Schon die erste Kreuzung reduzierte das Quartett beinahe um eine Person. Sebastian bemühte sich, den Bordstein zu überwinden, fuhr vorwärts über die Schwelle, unterschätzte die Höhe. Julia kreischte, kippte, sprang, fiel gleichzeitig aus dem Rollstuhl. Aber sie war Vollblutsportlerin! Irgendwie gelang es ihr, ihren Körper vollständig zu koordinieren, landete auf dem gesunden Fuß, stand dort nun, mitten auf der Kreuzung, zwischen hupenden Autos, wie eine griechische Statue der Artemis.

      „Fährt man einen Rollstuhl nicht rückwärts über ein Hindernis?“ fragte Matthias Sebastian. Dessen vernichtender Blick ließ ihn vermuten, dass seine Bemerkung vollkommen unnötig gewesen war. Offen blieb, für alle Ewigkeit, die Frage, warum er vorwärts über den Bordstein gefahren war. Schließlich war Sebastian Mediziner, wusste, wie man einen Rollstuhl zu bedienen hatte. War es ein Versehen gewesen? Oder hatte es wie ein Unfall aussehen sollen? Erneut wechselten Caroline und Matthias bedeutungsschwangere Blicke, bemühten sich, der Situation den nötigen Ernst zukommen zu lassen.

      Julia hatte inzwischen wieder in ihrem Gefährt Platz genommen, lachte, bat Sebastian, demnächst solche Aktionen sein zu lassen. Sie retteten sich in eine nahe Kirche. Julia wuchtete sich aus dem Rollstuhl, griff nach den Krücken, sie betraten andächtig das kühle Kirchenschiff. Beim Verlassen des Gebäudes bemerkten sie einen Reisebus, dessen Insassen, unzählige ältere Personen, sich auf den Bürgersteig ergossen. Diese glitten, miteinander schnatternd, dem Kirchenportal entgegen. Die Vier wollten an den Rollstuhl heran, doch noch würden sie keine Gelegenheit dazu haben. Der Strom der Menschen riss nicht ab, und kaum jemand ließ die Chance aus, den Rollstuhl zu berühren, ehe der Ort der Besinnung betreten wurde.

      Die Vier blickten sich an, ernannten Julias fahrbaren Untersatz zum Heiligen Rollstuhl, warteten darauf, dass jemand Krücken in die Luft warf und „Ich