T.F. Carter

Begegnungen


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unzählige Treppen. Niemand von ihnen hatte jemals so viele Treppen in einer Stadt wahrgenommen wie an diesem Tage. Die Vermutung lag nahe, dass es derartige Treppen überall in den Städten dieser Welt gab, nur jetzt, mit dem Heiligen Rollstuhl, jetzt fiel es besonders auf. Sie brachten das Vehikel zurück zum Auto, und den Rest des Weges unternahm Julia an Krücken.

      Der Muskelkater kam spät am Abend, vorbestimmt, wie das Amen in der Kirche, aber noch herrschte Hochstimmung. Sie hatten einen schönen Tag verbracht. Zu Viert!

      „Und morgen“, ließ Julia verlauten, „morgen macht ihr Drei eine schöne Wanderung! Ich werde die Ruhe genießen.“

      Die Wanderung am nächsten Tag war unzweifelhaft wunderschön. Die Drei stiegen auf und ab, liefen über Wiesen, kletterten über Geröll, fanden sich in engen Tälern wieder. Es war so, wie Matthias die Berge kannte und liebte. Stundenlang waren sie unterwegs, hatten immer noch Julias Worte im Ohr: „Lasst euch Zeit, ich habe ja zu lesen.“

      Als sie zurückkehrten, schien die Temperatur im Appartement knapp über dem Gefrierpunkt zu liegen. Julia saß auf dem Sofa, begrüßte sie: „Ich dachte schon, ihr kommt gar nicht mehr zurück!“

      „Uh“, machte Caroline. Sie war selbst eine Frau. Sie hatte es mit Sicherheit die ganze Zeit geahnt, denn Julia hatte Sebastian nur getestet. Lass Dir Zeit, komm‘ nicht zu früh zurück! bedeutete, übersetzt ins maskuline Deutsch, nichts anderes als Wehe Du lässt mich hier allein, aber ich sage Dir das nicht, denn das musst Du schon selbst wissen, dass Du mich hier nicht alleine lassen kannst, mich armes, immobiles verletzliches Wesen, Du beziehungstechnischer Holzklotz! Sebastian hatte in dem Augenblick verloren, als er es gewagt hatte zu sagen: „Du hast wirklich nichts dagegen?“ – „Aber natürlich nicht!“ (Was soviel bedeutete wie das ist deine letzte, deine allerletzte Chance. Wenn Du jetzt nicht begreifst, dass Du nicht gehen darfst, auch wenn ich sage, dass Du gehen kannst, dann ist Dir auch nicht mehr zu helfen. Ich habe Dir alle goldenen Brücken dieser Welt gebaut, und Du missachtest meine eindeutigen, unmissverständlichen Hinweise.)

      Caroline und Matthias zogen sich dezent zurück, was in einer gemeinsamen Maisonette-Wohnung nur bedingt möglich war.

      Am Abend, nach dem Essen, zubereitet von der Dahinsiechenden, die sich mittlerweile beachtlich agil auf den Krücken bewegte, gestählt durch den anstrengenden Besuch von Bern am Vortag, äußerte Julia den Wunsch: „Ich möchte mir die Fingernägel lackieren.“ In Matthias stieg die Erinnerung an den gemeinsamen Absturz über die steile Almwiese auf, ausgelöst von Nagellack. Lackierte Fingernägel konnten viel bewirken.

      Das Badezimmer mit den Utensilien befand sich im unteren Geschoss, nur über eine Wendeltreppe zu begehen, eine tatsächliche Herausforderung für die Verletzte. Sebastian eilte – und kehrte zurück.

      „Äh, welchen Nagellack.“

      „Den Roten!“ Die Stimme wirkte freundlich, aber es schwang dieser gewisse Vorwurf mit, warum Sebastian nicht erfühlt hatte, dass an diesem Tag rot angesagt sei.

      Caroline und Matthias nahmen auf einem nahen Sofa die Logenplätze ein. Gäbe es Popcorn, sie würden es sich kaufen, um, mit allem Wichtigen versorgt, dem nun beginnenden Unterhaltungsprogramm zu folgen.

      Sebastian eilte erneut von dannen, kehrte nur Sekunden später mit einem roten Nagellack zurück und überreichte ihn wohlgemut. Doch wer nun erwartet hätte, dass seine Bemühungen honoriert würden, wurde schwer enttäuscht.

      „Ich sagte, den Roten!“ In Julias Stimme schwang unüberhörbar der Zusatz Kannst Du mein – richtiges - Rot nicht von Deinem – falschen - Rot unterscheiden, Du Wurm? mit.

      Matthias runzelte die Stirn. Die Flasche war eindeutig rot. Caroline sagte nichts. Er erkannte nur am Zucken ihrer Mundwinkel, dass sie ahnte, was kommen würde. Er kannte sich mit ihren Nagellackflaschen nicht aus. Ganz wie Sebastian in Julias Sortiment. Sie tauschten einen Blick, und er las in den Augen seiner Freundin Jetzt wird’s erst richtig interessant. Watch, listen and repeat!

      Sebastian eilte und kehrte ein drittes Mal zurück, diesmal alles in seinen Händen tragend, was auch nur annähernd an einen roten Nagellack hätte erinnern können. Mattias fand, Sebastian hatte sich durchaus achtbar geschlagen, doch er sah Carolines diabolisches Lächeln neben sich. Wo ist die Pointe? Er musste nicht lange warten.

      „Wieso schleppst du jetzt alles herbei? Ich sagte den Roten. Bist du nicht in der Lage, einen roten Nagellack zu erkennen, dass du jetzt so ein Chaos verbreitest?“

      Caroline drehte sich zu ihrem Freund. In ihren Augen blitzte es vor Vergnügen, und sie übermittelte ihm die unausgesprochene Botschaft: Hast Du es begriffen? Auch ich könnte mal verletzt sein, und dann weißt Du, was zu tun ist! Nein, dachte Matthias, Gott möge die Füße meiner Freundin beschützen!

      Die Tücke mit dem Fondue

      Von Stund‘ an fanden Wanderungen nur noch zu Zweit statt. Sebastian war die Tage im Wesentlichen damit beschäftigt, Julia auf der Straße des Ortes auf und abzufahren, was spätestens nach zwei oder drei Durchgängen höchst eintönig wurde. Sie machten Urlaub auf einem Berg, die Möglichkeiten für eine Frau an Krücken waren erheblich eingeschränkt. Matthias war versucht, an die vielen Bücher zu erinnern, die sie dabei hatten, er sah aber davon ab. Lesen war schön, wenn man die Option hatte, nicht jedoch, wenn man es musste.

      Die Stimmung im Appartement war angespannt. Caroline und Matthias dehnten ihre Wanderungen weiter aus, um die Zusammenkünfte möglichst kurz zu halten. Die Paare begannen, sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen. Objektiv betrachtet konnte niemand etwas dafür, denn Julia hatte sich den Bänderriss mit Sicherheit nicht absichtlich zugezogen, aber ein Berghotel, zudem mit schmaler Reisekasse, war nicht der optimale Aufenthaltsort für fußkranke Personen.

      Caroline und Matthias machten weiterhin wunderschöne Bergtouren, erlebten unfassbare Momente der Natur. Das Wetter war gnädig, es gab Sonne, Sonne und ansonsten Sonne. Im Hotel verzichteten sie auf große Erlebnisberichte, um den Frust bei Sebastian und Julia nicht zu groß werden zu lassen. Aber nach einer Weile fanden sie alle zurück zu Aktivitäten zu viert. Hinter dem Hotel war eine Bocciabahn, man konnte auch auf der Wiese dort am Pool liegen. Alles wird gut, dachte Matthias. Eigentlich, so fand er, lief der Urlaub gar nicht so schlecht, und er übersah Spannungen zwischen Caroline und Julia. Der Lagerkoller war keineswegs so fern. Zwei Paare, die sich eigentlich blendend verstanden, stiegen einander aufs Dach. Auch das war ein Lerneffekt fürs Leben.

      Schließlich überprüften sie ihre Finanzen. Sie hatten sehr kostenbewusst gelebt, und so konnten sie sich nicht nur ein, nein, sogar zwei Abendessen im Hotelrestaurant leisten. Das eine würde ein Fondueabend sein, und sie beschlossen, danach noch ins Tal zu fahren, da dort ein Konzertabend mit Brahms (seinen Stücken, nicht dem Komponisten daselbst!) stattfinden würde.

      Schick zurechtgemacht (diesmal gab es keine Nagellack-Affären, auch Männer waren durchaus lernfähig) und vollkommen ausgehungert kamen sie in den Saal, nahmen zwischen den anderen Gästen Platz. Keiner von ihnen hatte jemals ein Käsefondue genossen. Sie kannten es ausschließlich aus Asterix, zitierten, als Bildungsbürger, die entsprechenden Stellen aus dem passenden Band und fragten sich, ob der Käse tatsächlich derartige Fäden ziehen würde, wie es dort dargestellt war.

      Der Topf wurde vor ihnen platziert, auch bekamen sie ihren Wein. Sie wollten es krachen lassen, selbst wenn es der preiswerteste Tropfen war! Die Brotstücke lagen vor ihnen, sofort schlugen sie zu, stachen hinein, tunkten es an der langen Gabel in den Brei, zogen das Brot heraus…

      Keine Fäden!

      Nicht einmal Ansätze davon!

      Was machten sie verkehrt?

      Das Brot schmeckte entsetzlich. Von Käse war nichts zu spüren, nur beißender Alkoholgeschmack, als ob man das Brot direkt in Schnaps geworfen hätte. Wie konnten Menschen das nur gut finden? Die spinnen, die Schweizer! überlegte Matthias. Sie waren enttäuscht, aber hungrig. Außerdem hatten sie viel Geld dafür bezahlt. Sie quälten sich Brotstück um Brotstück hinein.

      „Die anderen essen gar