T.F. Carter

Begegnungen


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      Nach der gelungenen Rettungsaktion des Jagdopfers entfernten die Vier die Matratzen und lernten innerhalb der nächsten Viertelstunde, wie nicht geborstene Lattenroste unter Spannung glücklicherweise erneut in den Rahmen eingesetzt werden konnten. Mission erfüllt!

      Sie entschieden sich nach diesem handwerklichen Abenteuer, vor dem eigentlich dringend notwendigen Einkauf im Tal, eine Spontanwanderung zu unternehmen. Es gab einen Weg den Hang hinunter bis an den See, durch den Wald. Gut gelaunt riss Sebastian seinen Wanderrucksack, den er extra gekauft hatte, an sich. Sie stürmten nach draußen, waren bald im Wald völlig alleine, kamen gut vorwärts. Spott ergoss sich über Matthias, da er, angeregt durch übermäßigen Teegenuss, in der ersten halben Stunde nahezu jeden einzelnen Baum markieren musste. Aber alles in allem lief es nun gut. Caroline gefiel der Weg, Sebastian und Julia liefen flott und gut, die Sonne strahlte, der Wald spendete Schatten, und nachmittags würden sie endlich auch etwas anderes zum Essen haben als nur Brühwürfel.

      Unten, am See, besichtigten sie eine Grotte, stiegen dann über Weiden und saftige Wiesen wieder auf. Die Sonne glühte, es war mittags, es war heiß. Sehr heiß. Dennoch, sie sind Sportler, kamen schnell voran, bis ein merkwürdiges Pfeifen Matthias innehalten ließ. Unwillkürlich schaute er auf die Strecke einer an dieser Stelle nebenan verlaufenden Standseilbahn. Wurde die mit Dampf betrieben?

      Julia hetzte mit erschrockenem Blick an ihm vorbei, und er sah Sebastian am Boden sitzen, verzweifelt nach Luft ringend. Erst einige Minuten später schien sicher zu sein, dass er durchkommen würde, aber nun erfuhren Caroline und Matthias, dass Sebastian, der Leistungssportler, Asthmatiker war. Im Sport wusste er, wie er sich zu verhalten hatte, doch hier, am Hang, in der Sonne, mit dem Rucksack, in unbekanntem Terrain, hatte er einfach überpowert.

      Matthias übernahm den Rucksack, fragte sich, was Sebastian alles mit sich herumtrüge, da das Gewicht ihn selbst fast zu Boden zog, und dann ging es weiter, viel langsamer, bis sie irgendwann wieder beim Hotel angekommen waren. Sebastian hatte sich wieder erholt, sie fuhren einkaufen, gaben ihr spärliches Vermögen aus, hatten endlich ein nettes Abendessen.

      Sie beschlossen, dass Rucksäcke leichter zu sein hatten, dass sie etwas langsamer gehen würden, dass sie sich aber alle auf die nächsten Wanderungen freuten. Und das Ziel der nächsten Wanderung gleich am folgenden Tag war der Hausberg. Nahe dem Hotel war eine Seilbahnstation, aber sie waren jung und knackig, wie sie sich gegenseitig bestätigten. „Seilbahnen sind was für Weicheier“, grinste Sebastian, der gerade die erste etwas schwerere Steigung knapp überlebt hatte. Matthias überlegte kurz, ob er den Vorfall vom gleichen Tag noch einmal thematisieren sollte, sah dann aber davon ab. Zu präsent war für ihn noch das Lästern über die Gefrierbox, das noch durch das Drama der tagelang verschwundenen Berge überlagert wurde. Was könnte nun Spott seinerseits auslösen? Bei seinem Glück würden ab sofort bestimmt sämtliche Lebensmittelläden im näheren und weiteren Umkreis für die nächsten Tage geschlossen haben.

      Sie bestiegen also den Hausberg per pedes, würden ihn auf herkömmliche Weise bezwingen. Und oben, wichtig für Caroline, die immer ein bestimmtes Ziel brauchte (und ein Gipfelkreuz war kein gültiges Ziel), war eine kleine Restauration. Sie quälten sich einen unansehnlichen und langweiligen Weg nach oben, staunten, dass der Berg vor ihren Füßen zu wachsen schien, aber dann, irgendwann, waren sie endlich oben, genossen ein überwältigendes Panorama, nun zu beiden Seiten, einen grandiosen Blick in zwei benachbarte Täler, spielten mit den frechen Bergdohlen, sahen in der Ferne sogar einige Steinböcke.

      Der Restauration rangen sie vier fantastische Eisbecher ab, schlangen sie herunter, kehrten in die Sonne zurück, wollten nun über einen schmalen Weg über einen Berggrat zum nächsten Gipfel aufsteigen. Kaum hatten sie das Gebäude verlassen, teilte Julia mit: „Mir ist schlecht.“

      Sebastian und Julia saßen nur Minuten später im Sessellift nach unten, während Caroline und Matthias dem eigentlichen Weg folgten. Er war nicht sonderlich schwer, aber atemberaubend. Der Anblick der majestätischen Berge flimmerte im Sonnenlicht, und als sie schließlich über eine Felsflanke abstiegen und auf einer blühenden Sommerwiese standen, Gämsen in der Wand neben sich beobachteten, grasende Kühe vor sich bemerkten, war der Tag perfekt. Fröhlich ging Matthias zum ersten Kälbchen, wollte es gutmütig auf die Stirn tätscheln, da hörte er von hinten nur ein „Ähem“ von Caroline.

      Irgendetwas ist hier falsch, dachte er, und er bemerkte es erst, als er das knuffige Wesen erreicht hatte. Der Kopf fuhr herum, wurde abgesenkt, das Kälbchen schnaubte unwillig. Ein Bulle! Es ist ein Bullenkälbchen! Ausgerechnet er, der er zahllose Sommerurlaube auf Bauernhöfen verbracht hatte, der ständig in Kuhställen gewesen war, ausgerechnet er hatte nicht gesehen, dass sie über eine Wiese mit kleinen Bullen liefen! Caroline hatte klug Abstand gehalten und stand längst, schadenfroh lächelnd, an einem Gatter, während Matthias sich, sorgsam den kleinen Bullen im Blick, vorsichtig zurückzog.

      „Na?“ sagte sie. Es war nur dieses eine Wort. Eigentlich sprach sie mehr. Viel mehr. Aber so hatte in dieser Situation dieses eine kleine Wort, bestehend aus zwei gewöhnlichen Buchstaben, unglaubliche Kraft. Sie lachte über ihn, ohne zu lachen. „Na?“ Es blitzte in ihren Augen. Er hätte sie auf der Stelle küssen können, aber die Bullen hinter ihm ließen jegliche Romantik stark abkühlen.

      Im Hotel berichteten sie von der Wanderung, beschrieben die Erlebnisse, machten Sebastian und Julia klar: Diesen Weg müsst ihr erlebt haben! Sofort stand fest, dass sie ihn am nächsten Tag noch einmal gehen würden, diesmal aber unter Benutzung des Sesselliftes aufwärts!

      Erneut folgten sie nun dem Berggrat, erneut war es heiß, erneut war das Panorama fantastisch. Leider hatten die beiden Frauen sich, als sie den zweiten Gipfel erreichen, über irgendetwas gestritten. Caroline, wütend auf Julia, stieg bereits ab, war ein paar Meter vor den anderen. Sie fanden keine Zeit zum Pausieren, folgten ihr sofort. Julia lief vor Matthias, strauchelte, trat fehl. Ein peitschenartiges Geräusch hallte durch die Luft. Caroline hörte es bis zu sich, drehte sich um, während Julia aufstöhnend zu Boden sank. Sebastian, angehender Arzt, öffnete ihren Schuh.

      Sie alle brauchten kein abgeschlossenes Medizinstudium, um sofort zu erkennen, dass Julia mit diesem Fuß keinen Meter mehr gehen würde. Das Gelenk schwoll bereits an, zeigte blaue Färbung. Ein anderes Pärchen warf ihnen zwar eine Binde zu, um das Gelenk zu stützen, doch Julia konnte keinesfalls mehr auftreten. Mühsam streiften sie ihr den Schuh über, banden ihn nur noch provisorisch zu, damit er nicht verlorenging.

      Was nun? Sie waren in fast 2.300 Metern Höhe, fernab der nächsten Straße oder Seilbahn. Zurück über den Berggrat? Der Weg war nicht schwierig, aber lang. Wie bekamen sie die Verletzte zur Bergstation? Caroline und Matthias erinnerten sich an zwei Berghütten etwas unterhalb ihrer Stelle. Und dorthin führte ein holpriger Fahrweg. Wenn sie sie wenigstens bis zur nächsten Berghütte transportieren könnten… Von dort wäre es möglich, Julia abholen zu lassen, ohne gleich die Bergwacht alarmieren zu müssen.

      Die beiden Männer nahmen die Verletzte in die Mitte, bemühten sich, sie hinabzutragen, doch Sebastian war nicht wohl im Magen. Mochte er in seiner Ausbildung so Manches sehen, was ihm berufsbedingt höchste Professionalität abnötigte und daher während der Arbeit emotional eher kalt ließ, so traf ihn die Verletzung seiner Freundin persönlich. Matthias versuchte es mit Schultern der Verletzten, kam gut ein paar Meter abwärts, erreichte das Ende einer steilen Partie, doch nun wurde ihr das Tragen unbequem. Über die vor ihnen liegende Almwiese konnte er sie aber auf andere Weise tragen. Huckepack. Sie trug kurze Shorts. Matthias griff um ihre nackten Beine links und rechts, sie schlang ihm die Arme um den Hals, hatte ihre gute Laune wiedergefunden, meinte, dass sie noch nie so weit oben gewesen sei und lachte. Aus Matthias‘ Perspektive war alles sehr interessant zu beobachten. Sie war klein und leicht, es würde schon gehen. Vorsichtig und langsam ging er weiter, Caroline vor, Sebastian hinter ihm. Ein anderer Wandertrupp kam ihnen entgegen. Matthias überlegte, was die wohl von ihnen hielten.

      Julia zuckte zusammen, griff sich unter ihr Bein. Will sie sich nur kratzen? schoss es Matthias durch den Kopf. Etwas Rotes blitzte auf. Sie blutet! Dachte er. Sie ist verletzt! Oder sie hat ihre Tage! Was für merkwürdige Gedanken man in einem derartigen Augenblick hatte…

      Er trat fehl, kam ins Taumeln, versuchte, sich