Carola Hipper

Die Abenteuer der Linny Witt


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gab Momente, da machte die Erinnerung an vergangenes Familienglück Linny ein wenig traurig. Doch zumeist schöpfte sie Kraft aus dem Lächeln ihrer geliebten Mama, die ihr aus dem Bilderrahmen aufmunternd zuzuzwinkern schien. Wie so oft in den vergangenen Wochen und Monaten hatte Linny allein zu Abend gegessen. Ihre Tante Verula, mit der sie seit drei Jahren das kleine verwinkelte Häuschen in der Pantheoneumallee bewohnte, war, wie so oft, zeitig in ihrem Zimmer verschwunden, um ihren Rausch auszuschlafen.

      Wie stets, so hatte Tante Verula auch an diesem Tag bereits nachmittags begonnen, sich mit hochprozentigem und, wie Linny fand, übelriechendem Alkohol über den Verlust ihres Verlobten Peter, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, hinwegzutrösten. Tante Verula war oft verkatert, fast jeden Tag hatte sie Kopfschmerzen und war unpäßlich. Trotz alledem bemühte sie sich sehr, für Linny zu sorgen.

      Linnys Tante war Alkoholikerin. Wenn sie trank wurde sie fast immer sehr traurig und müde, niemals aber war sie aggressiv oder gar ungerecht gegen Linny. Tante Verula hatte das völlig verstörte Mädchen in ihre Obhut genommen, nachdem Linnys Mutter bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Tragische Unfälle, so schien es, waren keine Seltenheit in Linnys Familie. Trotz oder gerade wegen ihrer Alkoholkrankheit bemühte sich Tante Verula um so mehr, Linny die Mutter zu ersetzen. Dennoch hatte das Mädchen sehr früh die Verantwortung für das gemeinsame Leben mit ihrer Tante übernehmen müssen. Jeden Morgen brachte Linny Tante Verula das Frühstück mitsamt einer Kopfschmerztablette ans Bett. Und wann immer ihre Tante verkatert war, half Linny ihr bei der Morgentoilette und beim Ankleiden. Auch des Abends hatte sie ein Auge auf ihre Tante, denn sie schlief oft mit einer Flasche Wodka in der Hand ein. Und wenn dies geschah, räumte Linny die leeren Flaschen und Gläser beiseite und brachte ihre Tante hilflose Tante zu Bett.

      An diesem Abend hatte sich Tante Verula ohne Abendessen in ihr Schlafzimmer zurückgezogen. Und so kam es, daß das Mädchen wieder einmal allein seine Mahlzeit hatte einnehmen müssen. Nach dem Essen las Linny noch eine Weile in ihrem Buch. Als sie schläfrig wurde, löschte sie die Lichter und ging auf ihr Zimmer. Dort entzündete sie, wie jeden Abend seit dem frühen Tod ihrer Mama, eine weiße Kerze und stellte sie auf das Fensterbrett. Ihre Mutter hatte dasselbe für Linnys Großmutter getan, nachdem sie gestorben war, und das Mädchen hatte diese kleine Familientradition übernommen.

      »Damit sie weiß, daß wir immer an sie denken«, hatte Linnys Mutter ihr erklärt, als sie fragte, wozu die kleine Kerze gut sei. »Das Licht der Kerze wird Großmutter in dunklen Stunden den Weg nach Hause weisen.«

      Und nun war es Linny, die diese Tradition fortsetzte. Sie wünschte sich, daß auch ihre Mama den Weg nach Hause finden möge, nach Hause zu ihrer Tochter, die das Andenken der Mutter schmerzlich in ihrem Herzen bewahrte.

      Draußen über den Dächern der Stadt tobte der Sturm. Linny zuckte bei jedem Donnerschlag zusammen und zog die Decke über den Kopf. Von Blitz und Donner getrieben, hatten sich pechschwarze Wolken über der Stadt versammelt. Soeben fuhr der Wind mit aller Macht durch den schmalen Spalt unter Linnys Tür, als sei er ein verwunschener Geist, der sich nach jahrhundertelanger Qual den Weg aus seinem Gefängnis bahnte. Als scharfer Luftzug zwängte sich der Wind durch das enge Schlüsselloch. Dabei entstand ein hoher, melodischer Pfeifton. Auf das Pfeifen folgte ein drohendes Knarren der alten Holztür, und gleich darauf ein dumpfes Ächzen der Fensterläden, die sich mit Kräften dagegen wehrten, vom Sturm aus den Angeln gehoben zu werden.

      Linny versuchte, sich abzulenken und an etwas Schönes zu denken. Wann immer sie ganz allein in ihrem Zimmer war und fühlte, daß die Furcht unter ihre Decke kroch und mit eiskalter Hand die Finger nach ihr ausstreckte, dachte sie an den Urlaub in Indien. Eigentlich war es für ihre Mutter gar kein richtiger Urlaub gewesen, denn sie war als Dolmetscherin nach Asien geschickt worden, um auf einem internationalen Kongreß als Simultanübersetzerin zu arbeiten. Ihre Mama war mehrsprachig aufgewachsen. Das Talent für das Erlernen fremder Sprachen und Dialekte hatte sie von ihrem Vater geerbt, der die ganze Welt bereist hatte. Linnys Mutter sprach acht Sprachen fließend, und als Linny noch sehr klein war, hatte sie wie selbstverständlich mit ihrer Tochter französisch, englisch, holländisch, chinesisch, japanisch, arabisch und sogar russisch gesprochen. Heute erinnerte sich Linny an das frühe Sprachtraining nicht mehr besonders gut. Aber ihre Mutter hatte stets mit einem milden Lächeln gesagt:

      »Wer weiß, wozu es gut ist, wenn du ein paar Vokabeln lernst!«

      Ihre Mama hatte auch gemeint, daß man gar nicht früh genug anfangen könne, so viel wie möglich zu lernen und dabei die Geheimnisse der Welt zu ergründen.

      Gerade wurde Linny jäh aus ihren Gedanken gerissen, denn eine harte Bö schleuderte den Fensterladen gegen das verwitterte Holzfenster, das mit heftigem Rattern und Scheppern aus seiner Halterung sprang und dem Sturm den Weg in das kleine Zimmer freigab. All ihre Gürtel, die Linny fein säuberlich mit den Schnallen nach oben an einer besonderen Vorrichtung ihrer Zimmertür aufgehängt hatte, tanzten und klimperten zu der düsteren Melodie des Windes. Das Mädchen zitterte unter der Bettdecke, die es noch immer über den Kopf gezogen hatte. Linny hatte fürchterliche Angst vor Gewitter, und hier, in dem kleinen Haus am Rande des düsteren Waldes, erschienen ihr die entfesselten Elemente noch bedrohlicher zu sein.

      Dem gebieterischen Zucken des Blitzes folgte in kurzem Abstand ein unbarmherziges Donnern, das wie ein Gewehrschuß das kleine Häuschen erschütterte. Es war ein Unwetter, als hätten die Pforten der Hölle sich aufgetan.

      »Mir wird nichts geschehen«, sprach Linny sich selbst Mut zu. Auch das hatte sie von ihrer Mutter gelernt. »Es ist nur ein Gewitter. Es kann mir nichts anhaben. Mir wird ganz sicher nichts geschehen.« Das Mädchen versuchte angestrengt, sich an unbeschwerte Zeiten zu erinnern. Doch in diesem Augenblick fühlte Linny sich entsetzlich klein und einsam. Eine Sekunde lang dachte sie daran, Tante Verula aufzuwecken. Doch im selben Moment verwarf sie den Gedanken wieder. Wenn ihre Tante Alkohol getrunken hatte, schlief sie wie eine Tote. Jeder Versuch, sie aus ihrer Besinnungslosigkeit aufzuwecken, wäre sinnlos. Also versuchte Linny, die Angst zu verscheuchen. Sie konzentrierte sich. In Windeseile schickte sie ihre Gedanken zurück nach Indien, wo sie sich so unglaublich behaglich und geborgen gefühlt hatte, als sie mit ihrer Mama auf einem wunderschön geschmückten Elefanten reiten durfte. Dieser Tag war wahrhaftig der schönste Tag ihres Lebens gewesen! An jenem Tag hatten sie gelacht und gescherzt, und ihre Mama hatte sie »meine kleine Elefantenprinzessin« genannt.

      Wieder prallte der Fensterladen mit lautem Scheppern gegen das zerbrochene Fenster. Der Regen prasselte in wütenden Salven ins Zimmer. Mit sich brachte er einen eisigen Hauch, der bald wie ein dunkel aufziehendes Unbehagen den Raum vereinnahmte.

      Linny erschauerte. Sie wußte, sie würde sich überwinden und aufstehen müssen, um die Fensterläden zu schließen. Sonst würde der hereinströmende Regen die alten Holzdielen unter Wasser setzen. Wieder ein kurzes Zucken des Blitzes, wieder ein lauter Knall, der Linny den Atem stocken ließ.

      »Jetzt«, dachte sie, »ich muß sofort aufstehen, sonst traue ich mich niemals mehr unter dieser Decke hervor!«

      Mit einem Ruck warf sie die Bettdecke beiseite und sprang auf die Beine. Es war stockdunkel im Zimmer, doch Linnys Augen hatten sich bald an die Finsternis gewöhnt. Unter dem Fenster lag die Kerze, die sie für ihre Mutter angezündet hatte. Eine Windbö hatte sie zu Boden geworfen und ihr Licht verlöschen lassen. Das Gesicht zum Fenster gewandt, fuhr Linny der nächste Schreck in die Knochen. Über dem Fensterbrett erblickte das Mädchen die Silhouette eines schwebenden Schattens. Es war, als bewege er sich mit großen Schwingen auf und nieder. Linny konnte nicht glauben, was sie vor sich sah. Sie schloß die Augen und betete, daß ihre Phantasie ihr einen Streich gespielt hatte. Gleich darauf blinzelte sie ängstlich. Gleichzeitig hoffte sie, daß der Schatten verschwinden möge. Er konnte nicht real sein, nicht bedrohlich, nein, ganz sicher war er nichts als ein Hirngespinst.

      Als sie ihre Augen vorsichtig öffnete, erstarrte sie. Da! Für den Bruchteil einer Sekunde erhellte die nächste Himmelsentladung den winzigen Raum. Geblendet vom Blitz und vor Schreck erstarrt fiel Linny rücklings aufs Bett. Da saß sie nun und rieb sich die Augen, als könne sie das Gesehene mit einer bloßen Handbewegung wegwischen. In diesem Augenblick begann die Erscheinung, die sich auf dem Fensterbrett niedergelassen hatte, zu sprechen: