Carola Hipper

Die Abenteuer der Linny Witt


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Ein magerer Ersatz für meinen Nachttrunk! Wie lange liegen die da schon? Sind die überhaupt noch frisch? Oder ist die Packung etwa abgelaufen?«

      Hunibald rümpfte den Schnabel. Linny zog die Stirn in Falten und warf einen Blick auf das Haltbarkeitsdatum der Pralinen.

      »Keine Sorge, alles im grünen Bereich!« sagte sie. »Aber selbst wenn sie abgelaufen wären, da ist so viel Alkohol drin, der desinfiziert von innen!« Linny grinste schelmisch.

      »Da kennst du meinen empfindlichen Magen aber schlecht!« Der Papagei ließ den Kopf von einer Seite zur anderen pendeln.

      »Nun rede schon, Hunibald, wieso ist dir meine Hexentaufe so wichtig? Und wieso glaubst du, daß die weiße Magie ausgerechnet mich in ihrer Gefolgschaft braucht?« wollte Linny wissen. »Immerhin glaube ich gar nicht an Übersinnliches!«

      »Da haben wir ’s! Die Jugend von heute glaubt nicht an Magie! Das ist erschütternd! Was ist nur aus der Welt geworden?!«

      Hunibald schüttelte mit einem leidenden Gesichtsausdruck das Haupt. Bevor er weitersprach, tat er einen tiefen Seufzer: »Gerade jetzt wäre es wichtiger denn je, den magischen Nachwuchs von der Macht der dunklen Bedrohung und von der Dringlichkeit des Problems zu überzeugen! Also höre und schaudere, Linny Witt! Es kursiert das Gerücht, daß Lady Tyrannice van Slaughtermain, die Schwester des Schwarzen Fürsten, die dunkle Seele ihres Bruders zu nie dagewesener Stärke heraufbeschworen hat! Mit Hilfe der Bruderschaft des Schwarzen Blutes sucht sie nach einem neuen Gefäß, einem neuen Körper für ihren Bruder, der in eine Zwischenebene verbannt wurde. Seine Reinkarnation zu verhindern, ist das dringlichste Ziel der Anhängerschaft der Weißen Göttin.

      Es heißt, die Hohepriesterin selbst habe unlängst den Ritterorden der Wanhannaee-Acht rekrutiert, um das Schlimmste zu verhindern. Doch werden die acht Ritter allein und ohne unsere Unterstützung nicht viel gegen die dunkle Übermacht ausrichten können, sobald an Halloween die Hölle aufbricht und ihre schwarze Schar freigibt.

      Einzig die Macht des Kaskadenringes wäre imstande, das Aufbrechen der dunklen Kräfte aufzuhalten. Am Finger des Königs von Wanhannaee könnte der Ring den Zusammenhalt der weißen Gemeinde stärken und damit uns alle retten-«

      »Also, ich weiß nicht«, meinte Linny skeptisch, während Hunibald seinen Schnabel in die Pralinenschachtel steckte. »Für mich klingt das alles ein wenig-«

      »Gruselig?« vervollständigte der Papagei, der von den Cognacbohnen aufstoßen mußte.

      »-unwahrscheinlich«, sagte Linny vorsichtig. Sie glaubte nicht recht an Gespenster, Hexen und Dämonen. Ihr Leben war auch ohne Magie kompliziert genug. Sie vermißte ihre Mutter jeden Tag auf so bitterliche Weise, daß sie zuweilen glaubte, nie wieder glücklich sein zu können. Linny bemühte sie sich mehr denn je, in der Schule gute Noten zu bekommen. Sie wollte das Abitur bestehen und studieren. Ihre Mutter hatte ihr stets versichert, wie wichtig eine solide Schulbildung sei. Außerdem wurde Linny von großen Zukunftsängsten geplagt, seit ihre Mutter ums Leben gekommen war. Nein, sie würde sich von einem hergeflogenen Papagei, der von dunklen Kräften und schwarzer Magie faselte, auf keinen Fall von ihren Zielen abbringen lassen. Sie, Linny Witt, war keine Träumerin! Trotzdem, ihre Neugier war geweckt: Irgend etwas in Hunibalds Worten übte eine starke Faszination auf das Mädchen aus.

      »Du glaubst mir nicht!« stellte Hunibald fest und hob die Flügel. »Na, schön! Ich habe lediglich versucht, dir den Einstieg in die Hexenschaft zu erleichtern. Aber wenn du unbedingt die harte Tour einschlagen willst, bitte, meinetwegen!«

      »Sagen wir: ich bin skeptisch. Einen Skeptiker könnte man überzeugen«, lenkte Linny ein. Sie mußte sich selbst eingestehen, daß die Erzählungen des Papageis ihr Interesse geweckt hatten. Selbstverständlich würde sie ihm kein Wort glauben, aber trotz aller Vorbehalte war seine Geschichte doch so spannend, daß Linny unbedingt wissen wollte, was es mit der Auferstehung des Schwarzen Fürsten auf sich hatte. Außerdem freute sie sich darauf, ihrem besten Freund Contardo morgen nach der Schule die spannende Geschichte von dem nächtlichen Besucher und seinen magischen Botschaften zu erzählen.

      »Woran erkennt man nun diesen besonderen Ring? Und wer besitzt ihn?« erkundigte sich Linny.

      »Ich hoffte, du könntest mir diese Frage beantworten!« seufzte Hunibald.

      »Ich? Du machst wohl Witze!« entgegnete das Mädchen.

      »Niemals würde ich mir erlauben, in einer so heiklen Frage zu scherzen, das darfst du mir glauben, Lalinda!« sprach Hunibald mit theatralischer Stimme. »Doch, um deine Frage zu beantworten, meine Liebe, mit dem Kaskadenring verhält es sich so: Meinen Informationen zufolge, befand er sich zuletzt im Besitz deiner seligen Mutter. Und nun hoffte ich, du wüßtest, wo er zu finden sei. Selbst wenn du persönlich nicht an magische Zusammenhänge glaubst, so mußt du doch einsehen, daß es angesichts der drohenden Gefahr äußerst ratsam wäre, den Ring vor dem Zugriff der finsteren Mächte zu bewahren. Das leuchtet dir doch ein, hm? Doch um den Ring in Sicherheit zu bringen oder ihn zumindest mit einem magischen Schutzbann versehen zu können, müßten wir zuallererst einmal wissen, wo er sich befindet.«

      »Wer ist wir?« fragte Linny, die den Worten des Papageis aufmerksam gefolgt war.

      »Ähm, nun ja, ich, wollte ich gesagt haben«, stammelte der Papagei. »Ich bin schließlich dein Taufpate und der langjährige Freund und Begleiter deiner lieben Mama!«

      »Das sagst du! Woher weiß ich, daß du mir keine Märchen erzählst? Meine Mutter hat dich jedenfalls zu ihren Lebzeiten mit keinem Wort erwähnt. Und sie hat noch weniger verfügt, daß ihr Ring die Familie verlassen soll«, stellte Linny abwehrend fest.

      »Aber das soll er ja gar nicht!« berichtigte sich der Papagei hektisch flatternd. »Das soll er ganz und gar nicht! Nur für den Fall, daß du, meine liebe Linny, dich entscheidest, einen anderen als den magischen Weg einzuschlagen, wäre es hilfreich, den Kaskadenring in die Obhut der Hohepriesterin zu geben, damit die hohe Frau die Kraft des Ringes zu unser aller Schutz einsetzen kann. So versteh doch, meine Kleine, es sind nur noch wenige Tage bis Halloween! Es bleibt uns keine Zeit mehr!«

      »Und was, wenn an Halloween gar nichts geschieht? Ehrlich gesagt habe ich all die Jahre zuvor nichts von der Auferstehung böser Geister in der Halloween-Nacht bemerkt! Wieso sollte es dieses Jahr anders sein?« sagte Linny mit skeptischer Miene.

      »Aber laß es dir doch erklären, Kind: Deine Mutter hat dich lange Zeit von der Magie ferngehalten, um dir eine unbeschwerte Kindheit zu ermöglichen. Der dreizehnte Geburtstag ist für alle angehenden Hexen und Magier ein entscheidendes Datum. Bis zu diesem Tag werden sie von den älteren Eingeweihten, zumeist von ihren Familien, beschützt und gegen äußere Einflüsse abgeschirmt. Doch mit der Entscheidung eines jungen Zaubereianwärters für seine magische Laufbahn setzt er sich automatisch der Gefahr aus, mit den dunklen Kräften konfrontiert zu werden. Und diese Entscheidung, meine liebe Linny, nämlich die Entscheidung für oder gegen die Magie, steht auch dir an Halloween bevor. Wir alle wissen nicht, wie du, mein Kind, dich entscheiden wirst. Noch weniger wissen wir, wie stark die dunklen Mächte tatsächlich geworden sind. Falls es zu einer Auseinandersetzung mit dem Bösen kommen sollte, so muß der Kaskadenring rechtzeitig an den Finger des Wanhannaee-Oberhauptes gelangen, damit seine schützende Macht das Blatt zu unseren Gunsten wenden kann!« Hunibald tat einen tiefen Seufzer. Das Mädchen war schwerer zu überzeugen, als er angenommen hatte.

      »Also, schön. Mag sein, daß du recht hast. Wenn man die Existenz von Magie grundsätzlich für möglich hält, hören sich deine Ausführungen plausibel an. Allerdings sind das nur Behauptungen. Es fehlen dir die Beweise! Woher weiß ich, daß du mir die Wahrheit sagst? Ebensogut könnte es sein, daß du bloß irgendeine diebische Elster bist!« sagte Linny provozierend.

      »Wie bitte? Ich habe mich wohl verhört! Diebische Elster?! Nimm das zurück!« empörte sich Hunibald.

      »Schon gut, schon gut, beruhige dich! Du wirst doch aber einsehen, daß ich mich absichern muß, bevor ich dir unseren Familienschmuck aushändige. Das verstehst du doch!« versuchte Linny ihren Taufpaten zu beschwichtigen. Doch der Papagei war tief getroffen und sichtlich beleidigt.