Carola Hipper

Die Abenteuer der Linny Witt


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Wüten des Windes. »Hey, was ist nun? Begrüßt du so deine Gäste? Willst du nicht das Fenster schließen, damit wir uns gepflegt unterhalten können?«

      Als der nächste Blitz den Raum durchzuckte wie ein von Strom gereizter Muskel, riß Linny die Augen weit auf. Träumte sie? Nein, das konnte nicht wahr sein! So ein Unsinn! Sie bildete sich das alles nur ein. Es war ihre Furcht, die dieses Trugbild hervorgebracht hatte. Ja, die Angst konnte Dinge erscheinen lassen, die gar nicht vorhanden waren! Vollkommen reglos blieb Linny auf ihrem Bett sitzen und starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Dunkel.

      »Was denn, hat es dir etwa die Sprache verschlagen?« krächzte die Stimme.

      Nein, nein und nochmals nein! Dieser sprechende Schatten war nichts als Einbildung! Sie würde ihn ganz einfach ignorieren, dann würde er ganz sicher von selbst wieder verschwinden! Die Angst vor dem Gewitter hatte ihren Verstand vernebelt! Der Schatten war ein Trug, ein Traum, eine Sinnestäuschung! Aber gab es denn Trugbilder, die sprechen konnten? Ein wenig seltsam war das schon.

      »Heda, hallo! Ich rede mit dir, kleine Dame! Wo sind deine Manieren geblieben? Hast du sie unterm Bett versteckt?«

      Wieder erfüllte ein heiseres, krächzendes Gelächter den Raum. Linny war sich vollkommen sicher, daß ihre Phantasie mit ihr durchging, daran bestand kein Zweifel! Sie würde jetzt aufstehen, zum Fenster hinübergehen und diesen krächzenden Schatten verscheuchen! Und mit ihm würde sie all ihre Ängste und die traurigen Gedanken gleich mit zum Fenster hinausjagen. Anschließend würde sie sich in ihr Bett legen, von fernen Stränden und großen Abenteuern träumen und bald eingeschlafen sein. Und morgen früh wäre das Gewitter mit all seinen dunklen Schatten vergessen.

      »Heda! Wie lange soll ich noch auf deinem Fensterbrett herumlungern, Linny Witt!?«

      Verflixt! Woher kannte diese freche Schattengestalt ihren Spitznamen? Linny hieß mit vollem Namen Lalinda von Wittenberg, doch als sie ein kleines Mädchen war, fanden ihre Freunde und Schulkameraden, daß ihr Name viel zu lang und zu kompliziert sei. Daher nannten sie sie schlicht: »Linny Witt«.

      »Nun, kleine Lady, ich bin schon ein wenig enttäuscht von dir, das kann ich nicht verhehlen! Aber ich werde versuchen, dir dein unhöfliches Schweigen nicht zu verübeln und mich dir vorstellen: Gestatten, mein Name ist Hunibald Georgius Roderich Karl Eduard, der Dreiunddreißigste von Schattenstein zu Flüstertal!«

      Eben zerriß der Donner die vor Spannung knisternde Finsternis, als wolle er den Worten des Fremdlings Gewicht verleihen.

      »Besser ein krächzender Schatten als gar keine Gesellschaft«, dachte sie bei sich. Endlich fand sie ihre Sprache wieder und sagte:

      »Und was verschafft mir die Ehre deines späten Besuches, werter Hunibald Georgius Roderich ähm-« Linny stockte, denn leider hatte sie sich nicht den vollen Namen ihres ungebetenen Besuchers merken können.

      »…Karl Eduard, der Dreiunddreißigste von Schattenstein zu Flüstertal!« vervollständigte der späte Gast. »Freut mich zu hören, daß du des Sprechens mächtig bist«, fügte er hinzu. »Nun also gut, Hunibald mit dem komplizierten Namen, was machst du zu so später Stunde hier auf meinem Fensterbrett? Kannst du nicht zur Eingangstür hereinkommen wie jeder normale, ähm-« Linny zögerte, weil sie nicht recht wußte, wen oder was sie eigentlich vor sich hatte. Nach kurzem Innehalten fügte sie ihren Worten »-Geselle?« hinzu.

      Der seltsame Eindringling räusperte sich verächtlich. Da schleuderte der Sturm den lockeren Fensterladen ein weiteres Mal gegen den Fensterrahmen und schubste Hunibald, den Dreiunddreißigsten, mitten ins Zimmer hinein. Dabei ließ der schattenhafte Geselle ein glitzerndes Ding aus seinen Klauen gleiten, das, begleitet vom nächsten Aufblitzen des Sturmes, pfeilschnell durch die Luft sauste und mit einem magischen Lodern in Linnys Zimmertür steckenblieb, wo im selben Augenblick ein goldener Funkenregen zu Boden rieselte.

      »Was war denn das?« rief Linny aus und sprang vom Bett.

      Sie lief hinüber zur Tür, wo ihre Lieblingsgürtel sorgsam aufgereiht an den dafür vorgesehenen Haken hingen. Doch im Halbdunkel war nicht genau zu erkennen, was da in ihrer Tür steckte. Sie nahm die kleine Streichholzschachtel von der Kommode und öffnete die oberste Schublade, wo sie Kerzen und Teelichte aufbewahrte. Sie nahm ein kleines Sturmlicht heraus und versuchte, es zu entzünden.

      Der Wind fegte in kurzem Abstand Regensalven durch das sperrangelweit geöffnete Fenster. Linny verbrauchte sechs Streichhölzer, bis es ihr endlich gelang, die kleine Kerze zu entfachen. Sie hielt das Licht hoch und suchte nach der Stelle, wo sie das glitzernde Geschoß hatte einschlagen sehen.

      Da war es: Es war ein goldener Dolch, der sich ausgerechnet in die Öffnung der Schnalle ihres Lieblingsgürtels gebohrt hatte!

      »Oh, nein!« rief Linny aus. »Den Gürtel hat Mama mir zu meinem achten Geburtstag geschenkt!«

      »Da siehst du, wie klug der Dolch ist! Er wurde nicht nur aus einer geheimen Stahllegierung geschmiedet und mit reinem Gold veredelt, nein, noch dazu ist er sehr intelligent und findet immer den Weg zu seinem Ursprung!«

      »Was soll das heißen: den Weg zu seinem Ursprung?« sagte Linny bissig. »Herrje! Wehe, wenn dieses dumme Ding meinen Lieblingsgürtel beschädigt hat! Wenn du schon in fremde Häuser eindringst, ohne dich anzumelden, kannst du wenigstens deinen Kram bei dir behalten!« Linny war wütend. Und das war gut so. Während sie im Eifer ihres Zorns den Dolch aus der Tür zog und ihren Gürtel befreite, vergaß sie ihre Angst vor dem Unwetter.

      »Aber, aber, junge Dame! Etwas mehr Contenance, wenn ich bitten darf!« erwiderte der Schatten.

      »Von wegen, Contenance! Sag mir auf der Stelle, was du von mir willst, du komischer Vogel!« sagte Linny aufgebracht.

      »Nun werde mal nicht frech! Ich bin nicht bei Wind und Wetter den weiten Weg zu dir geflogen, um mich von dir anzicken zu lassen, du kleine Hexe!«

      »Nun, warum bist du dann hergekommen, wenn nicht deshalb?« fauchte Linny.

      »Wenn du dich tunlichst beruhigen würdest, mein Kind, könnte ich dir den Grund meines Kommens erklären! Aber nun sei bitte so freundlich und schließe endlich das Fenster, damit wir nicht unentwegt gegen den Wind anschreien müssen«, entgegnete Hunibald.

      Linny funkelte den schattenhaften Eindringling wortlos an, fügte sich aber. Sie versuchte, den gelockerten Fensterflügel in sein Scharnier zurückzuschieben, was ihr nicht recht gelingen wollte. Also schloß sie das Fenster so gut es ihr möglich war, bevor sie sich wieder ihrem ungebetenen Gast zuwandte.

      »So ist es besser!« kommentierte Hunibald. »Und nun sei so gut und entzünde noch ein paar von den kleinen Lichtern.«

      Mit mürrischem Blick ging Linny, die noch immer ihren Lieblingsgürtel in der Hand hielt, zurück zur Kommode, holte ein paar Teelichte hervor und entzündete sie. Nach und nach wurde es heller und behaglicher in dem kleinen Zimmer. Es war noch immer recht düster im Raum, aber der Schein der kleinen Flammen tauchte die Konturen des Raumes schon bald in ein sanftes, goldgelbes Licht. Auch der schattenhafte Hunibald war nun für Linnys Augen deutlicher sichtbar. Als er sich auf dem Kissen des kleinen Schaukelstuhles gleich neben ihrem Bett niederließ, begriff Linny, daß sie sich geirrt hatte. Es war ganz und gar nicht ihre lebhafte Phantasie, von der sie glaubte, sie habe sie um ihren Verstand gebracht! Was sich da auf ihrem Schaukelstuhl niedergelassen hatte, war kein Phantom! Tatsächlich und ohne jeden Zweifel saß dort ein leibhaftiger, sprechender, mit einem schneeweißen und viel zu großen, völlig durchnäßten Herrenhemd verhüllter Papagei!

      Als das regennasse Hemd zu Boden glitt, schüttelte der Papagei sein prächtiges Gefieder.

      »Ein kleiner Nachttrunk wäre mir jetzt äußerst genehm«, sagte Hunibald, der Dreiunddreißigste. »Einen Wodka hätte ich gern, mit heißer Milch, wenn ich bitten darf. Der wird mir wohl die Zunge lösen, hahaha!« krächzte und gluckste er amüsiert.

      »Bist du etwa betrunken?« fragte Linny mit strengem Blick. Seit sie bei ihrer Tante wohnte, wußte sie nur allzu gut, was Alkohol aus einem Menschen oder einem »Wesen« machen konnte.

      »Aber