Carola Hipper

Die Abenteuer der Linny Witt


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Elster‹ bin ich noch nie zuvor beschimpft worden!«

      »Also gut, tut mir leid! Ich nehme die ›diebische Elster‹ zurück. Bitte, nun komm schon, Hunibald, nimm noch ein Cognacböhnchen, bitte! Und dann erzähle mir noch mehr über die Hintergründe der dunklen Bedrohung«, bat Linny in versöhnlichem Ton.

      »Nichts werde ich dir mehr erzählen, Lalinda von Wittenberg! Und deine Böhnchen kannst du getrost an deine trinkfeste Tante verfüttern, falls sie je wieder aufwacht!« Hunibald war in der Tat tief gekränkt. Schmollend verschränkte er die Flügel vor der Brust.

      »Ach, komm schon, werter Hunibald! Erzähle mir mehr von Halloween und von dem Fürst der Dunkelheit«, bat Linny.

      »Ha, Halloween! Du wirst früh genug erfahren, welche Bedeutung diese Nacht für uns alle haben wird. Denn in eben dieser Nacht kehren die Toten aus dem Jenseits zurück! Und falls es stimmt, was der Sicherheitsrat der Vereinten Magischen Emirate befürchtet, so wird das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse schon sehr bald empfindlich gestört werden, denn in der Nacht darauf, zwischen Allerheiligen und Allerseelen, beginnt der Widerstreit zwischen Licht und Schatten. In diesem Jahr wird der dunkle Fürst aus der schwarzen Flamme des Lodoun auferstehen, und seine Seele wird vom Körper eines Unschuldigen Besitz ergreifen.«

      »Das klingt nicht gut.« Linny lief ein Schauer den Rücken hinunter.

      »Nicht gut? Pah! Das dürfte die Untertreibung des Jahrtausends sein!« Mit diesen Worten flog Hunibald von seinem Stuhl auf. »Und nun überlasse ich dich deinem Zweifel, mein Kind!«

      Der Papagei hatte kaum zu Ende gesprochen, da drängte ein orkanartiger Windstoß durch das Fenster, das Linny vor wenigen Minuten mühsam geschlossen hatte, und öffnete es mit lautem Getöse. Der Wind wirbelte nasses Laub und Regentropfen wie kleine Eispfeile durch das Fenster hindurch in den Raum hinein. Hunibalds Hemd wurde aufgewirbelt und durch das kleine Zimmer gefegt.

      »Ach komm schon, Hunibald, bleib noch etwas! Es wird ja gerade erst richtig spannend!« rief Linny aus.

      Doch Hunibald ließ sich nicht umstimmen.

      »Warte auf ein Zeichen«, krächzte er Linny verheißungsvoll zu, bevor er sich von den tobenden Elementen zum Fenster hinaustragen ließ.

      »Hunibald! Hunibald! So warte doch, du hast dein Hemd vergessen!«

      Linny war zum Fenster gestürzt und schrie ihre Worte in die Nacht hinaus, doch der tosende Wind verschlang begierig ihre Stimme.

      Während der Nacht wälzte Linny sich unruhig in ihrem Bett hin und her. Die Ereignisse des Abends kreisten in ihrem Kopf und ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Linny fragte sich, ob ihre Mutter tatsächlich im Kampf gegen den Schwarzmagier Samuel Slaughtermain ums Leben gekommen war? Hatte sie wirklich und wahrhaftig übersinnliche Fähigkeiten besessen? War es möglich, daß es neben der wirklichen Welt noch eine andere, eine magische Welt voller Hexen und Zauberer gab? Nein, welch ein Unsinn! Sicher hatte sie das alles nur geträumt! Hexen und Zauberer gab es nur im Märchen. Und Magie gab es so wenig wie fliegende Untertassen und sprechende Papageien! Mit diesem Gedanken schlief Linny ein.

       2. Kapitel Die große Stille

      Am anderen Morgen erwachte Linny mit der festen Überzeugung, daß sie sich den nächtlichen Besucher und seine magisch-düstere Geschichte von einer dunklen Bedrohung nur eingebildet hatte. Ihre Phantasie hatte ihr einen Streich gespielt, dessen war sich Linny ganz sicher. Trotz alledem konnte sie es kaum erwarten, ihrem besten Freund von ihrem Traumerlebnis zu erzählen. Sie mußte unbedingt in Erfahrung bringen, was Contardo über Magie und Hexerei wußte und was er davon hielt. Linny war in Gedanken so sehr mit den Ereignissen der vergangenen Nacht beschäftigt, daß sie ganz und gar vergaß, nach ihrer Tante zu sehen. Sie verließ das Haus, ohne zu frühstücken. Bereits auf dem Weg zur Schule wurde Linny klar, daß etwas nicht stimmte. Einige der Häuser, an denen sie vorbeikam, waren zerstört, Türen aus den Angeln gehoben, Fensterglas lag in tausend Splittern auf den Straßen und Bürgersteigen, Autos standen verlassen und ausgebrannt am Straßenrand, einzelne Bäume waren entwurzelt, Straßenlaternen umgestürzt. Kurzum: es war ein Bild der Verwüstung! Linny war entsetzt. Überall schien das Chaos gewütet zu haben. Die Straßen waren wie leergefegt. Keine Menschenseele war zu sehen, kein Lüftchen rührte sich. Es herrschte Totenstille über der Stadt. Das Mädchen erschauerte. War das das Werk des Sturmes? Und wo waren all die Leute geblieben, die an diesem Morgen hätten zur Arbeit gehen müssen? Auf der Straße fuhren keine Autos, kein Mensch und kein Tier war zu sehen, die Stille war erdrückend. Es war, als habe jemand mit unsichtbarer Hand eine Momentaufnahme der Zeit auf Leinwand gebannt. Alles war so unwirklich. Die Welt schien wie erstarrt.

      Als Linny das Schulgebäude erreicht hatte, bot sich ihr auch dort das Abbild einer gespenstischen Stille. Das Gebäude war menschenleer. Da waren keine Schüler, die geschäftig auf dem Schulhof umherliefen und wild durcheinanderschwatzten, da waren keine Lehrer, die die Schüler mahnend zur Ordnung riefen, und kein Hausmeister, der über das Gebäude wachte. Wie war das möglich? Wo waren sie alle geblieben? Es schien, als sei Linny der letzte Mensch inmitten einer Geisterstadt. Es war wie verhext!

      Das einzig Vernünftige, das ihr in dieser Situation einfiel, war, zum Haus ihres besten Freundes Contardo zu gehen und nachzusehen, ob er wohlauf war.

      Contardo bewohnte gemeinsam mit seinem Ziehvater eine winzige Souterrainwohnung in der Via lactissima, die nur drei Straßen von Linnys Haus entfernt lag. Herr Nonymos war der Hausmeister eines großen Mietshauses. Nachdem seine Frau gestorben war, hatte er sich furchtbar einsam gefühlt, und so hatte er Contardo vor drei Jahren adoptiert. Es war ihm egal gewesen, daß der Junge keine Papiere hatte und niemand so recht wußte, wer seine Eltern eigentlich gewesen waren. Wichtig war nur, daß die beiden sich auf Anhieb verstanden hatten.

      Die Wohnung der Familie Nonymos war klein, aber sauber und gemütlich, und sie kostete nicht viel. Ein weiterer Vorteil war, daß Herr Nonymos beinahe das gesamte Kellergeschoß der Wohnanlage für sich allein nutzen durfte. Und das war auch notwendig, denn Contardos Ziehvater war fest davon überzeugt, in seinem früheren Leben Atomphysiker gewesen zu sein. Aus diesem Grund hatte er in der ehemaligen Waschküche des Mietshauses, die den größten Platz im Kellergeschoß bot, sein Laboratorium mit allerlei komplizierten Apparaturen eingerichtet. Seine Arbeit als Hausmeister erledigte er zuverlässig und gewissenhaft. Doch in jeder freien Minute fand man ihn in seinem Labor, wo er unermüdlich grübelte und tüftelte, immer auf der Suche nach den unentdeckten Geheimnissen des Universums.

      Linny rannte so schnell sie konnte zu Contardos Haus. Als sie endlich dort eintraf, war sie vor lauter Aufregung ganz außer Atem. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Türklingel betätigte. Was, wenn sie tatsächlich der letzte Mensch auf dieser Welt war? Was, wenn das Universum aus den Fugen geraten war und alle anderen Menschen mit sich gerissen hatte? Was, wenn sie allein das große Ereignis verschlafen hatte? Und was, wenn sie nun für den Rest ihres Lebens auf einem leergefegten Planeten darauf warten müßte, daß Außerirdische auf der Erde landeten, um sie zu retten? Konnte das möglich sein? Nein, vermutlich war ihre Situation nicht ganz so aussichtslos. Fast mußte Linny bei diesem Gedanken ein wenig schmunzeln. Nein, so schlimm konnte ihre Lage nun wirklich nicht sein, daß sie anfing, an UFOs zu glauben! Sie klingelte noch einmal. Dieses Mal nahm sie den Finger gar nicht mehr vom Klingelknopf und läutete Sturm.

      »Was denn, was denn? Ich komme ja schon!« rief eine ihr wohlbekannte Stimme, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde. »Hey, Linny! Komm herein, ich habe dich schon erwartet!«

      »Was? Wieso erwartet?« Linny war über alle Maßen erleichtert, Contardo zu sehen. Obwohl eine solche Begrüßung normalerweise nicht ihre Art war, umarmte sie ihn stürmisch.

      »Na, na, komm doch erst einmal herein!« sagte er verlegen. Das Mädchen folgte Contardo auf sein Zimmer. Der Computer war eingeschaltet. Offensichtlich hatte Contardo gerade im Internet gesurft, als Linny an der Tür geläutet hatte.

      »Es scheint, als wären wir zwei die einzigen, die es nicht erwischt hat.« Contardo kam gleich zur Sache, als er Linnys fragenden Blick auffing. »Warst