Carola Hipper

Die Abenteuer der Linny Witt


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antwortete:

      »Nein! Selbstverständlich glaube ich nicht an solchen Unsinn! Aber nun mal Scherz beiseite. Was ist mit dir? Wenn ich angeblich eine Hexe bin, gut, das ist eine Erklärung dafür, daß ich heute morgen hellwach bin. Aber wieso bist du nicht in eine tiefe Erstarrung gefallen? Bist du ein großer Magier, der gegen das Phänomen, das offenbar die gesamte Stadt eingeschläfert hat, immun ist?« In Linnys Stimme lag eine Spur von Spott.

      »Nein, das bin ich nicht.« Contardo räusperte sich. »Ein Magier, meine ich. Aber immun muß ich wohl sein. Sonst würden wir in dieser Sekunde nicht miteinander sprechen.«

      Contardo kannte Linny nun schon seit drei Jahren, doch ausgerechnet heute war nicht der rechte Tag, ihr sein Geheimnis anzuvertrauen. Sie war einfach noch nicht bereit für die Wahrheit, so glaubte er.

      »Vermutlich bin ich verschont geblieben, weil mich vor zwei Jahren im Urlaub diese verdammte Fledermaus gebissen hat. Dabei muß mich der keine Vampir mit einem Virus oder irgendeinem anderen Mikroorganismus infiziert haben, und wahrscheinlich habe ich als Folge dieser Infektion Antikörper entwickelt, die mir quasi Immunität gegen magische Kräfte verleihen«, fügte er abwiegelnd hinzu.

      »Sicher! Das wird ja immer besser!« frotzelte Linny. »Ich bin eine Hexe, und du bist ein Vampir! Prima, dann wissen wir ja endlich, wieso wir uns so gut verstehen!« Linny versuchte, die Situation mittels Ironie zu verharmlosen. Doch tatsächlich war sie irritiert, und auch ein wenig beunruhigt. Gewöhnlich war es Herr Nonymos, der seine abenteuerlichen Theorien zum besten gab. Aus Contardos Munde hatte sie solch einen Unsinn noch nie gehört. Das Mädchen wußte wahrhaftig nicht, was es von der ganzen Sache halten sollte.

      »Bist du sicher, daß du in der letzten Nacht nichts Ungewöhnliches bemerkt hast?« wiederholte Contardo mit eindringlicher Miene, als wisse er mehr als er zugeben wollte.

      »Ich bin mir über gar nichts mehr sicher!« antwortete Linny ausweichend. »Und was ist das für eine Theorie über das Magnetfeld der Erde? Was hat denn das mit dem stürmischen Wetter zu tun?« Linny beeilte sich, das Thema zu wechseln. Sie wollte über alles reden, nur nicht über die Möglichkeit, daß sie tatsächlich eine Hexe oder irgendein anderes magisches Wesen sein könnte.

      »Ich denke, daß es einen Zusammenhang gibt zwischen den physikalischen Phänomenen, die mit dem Sturm einher gingen, und dem seltsamen Erstarrungsschlaf, der über die Stadt gekommen ist«, meinte Contardo.

      »Eben sagtest du noch, daß diese seltsamen Harpyien dran schuld seien«, unterbrach Linny naseweis.

      »Ja, schon. Aber es gibt eine Verbindung. Alles hängt zusammen«, sprach Contardo weiter. »Laß mich doch bitte erst einmal ausreden. Nach meiner Theorie kann es sich bei dem Gewitter der gestrigen Nacht nicht um ein gewöhnliches Gewitter gehandelt haben. Ich glaube, daß tatsächlich ein Magnetsturm über die Stadt hinweggefegt ist.«

      »Magnetsturm? Was ist das nun wieder?« Linny gähnte. Sie war wohl die einzige Person in der Stadt, die in der vergangenen Nacht zu wenig Schlaf bekommen hatte.

      »Ein Magnetsturm ist eine plötzliche, kräftige Störung des Magnetfeldes der Erde. Ausgelöst werden Magnetstürme durch das Eindringen von Sonnenwind in die Erdatmosphäre.«

      »Sonnenwind?« Linny hob die Augenbrauen.

      »Ja, richtig«, bekräftigte der Junge, »Sonnenwind! Normalerweise können Sonnenwinde nicht in die Erdatmosphäre eindringen, weil das Magnetfeld der Erde einen natürlichen ›Schutzschild‹ gegen die Teilchenstrahlung der Sonne bildet. Falls es nun stimmt, was Klimaforscher schon seit Jahren beobachten und befürchten, dann ist dieser Schutzschild im Begriff, sich langsam aufzulösen.«

      »Aber wie kommst du überhaupt auf die Idee, daß das Gewitter gestern ein Magnetsturm war? Könnte es nicht ein ganz normaler Sturm gewesen sein?« meinte Linny und stützte die Ellenbogen auf den Tisch.

      »Nun, das Gewitter hatte wohl gar nichts mit dem Sturm zu tun«, vermutete Contardo. »Es hat im Gegenteil eher von der eigentlichen Ursache des Sturms abgelenkt.«

      »Ich verstehe gar nichts mehr.« Linny unterdrückte ein weiteres Gähnen.

      »Deshalb habe ich dich ja gefragt, ob dir letzte Nacht nichts aufgefallen ist. Mir ist nämlich etwas aufgefallen.« Contardo machte eine bedeutungsvolle Pause. Dabei blickte er Linny aufmerksam an.

      »Nun sag schon!« drängte sie, denn Geduld war nicht ihre Stärke.

      »Tanzende Lichter!« sagte Contardo triumphierend.

      »Tanzende Lichter?« wiederholte Linny. »Du meinst nicht zufällig das Licht des Blitzes, der gewöhnlich von einem Donner gefolgt wird, ganz so, wie es für ein handelsübliches Gewitter typisch ist?«

      »Du machst dich lustig über mich«, gab Contardo ein wenig gekränkt zurück.

      »Entschuldige bitte«, lenkte das Mädchen ein. »Ich frage mich ja nur, was an Lichtblitzen so besonderes ist. Es sind elektrische Entladungen, die für ein Gewitter nun mal charakteristisch sind.«

      »Davon spreche ich nicht«, sagte Contardo. »Was ich gestern Nacht beobachtet habe, waren rote und grünliche Lichterscheinungen am Himmel.«

      »Na schön, dann war es eben ein besonders farbenfrohes Gewitter. Das ist mir auch aufgefallen-«

      Linny ließ den Kopf auf die Hände fallen.

      »Also doch! Dann hast du sie auch bemerkt!« rief Contardo aufgeregt aus.

      »Tut mir leid, Contardo, aber ich verstehe noch immer nicht-«

      »Die Polarlichter! Es sind typische Begleiterscheinungen von Sonnenstürmen! Und gestern habe ich diese Lichter am Himmel beobachtet!« Contardo lächelte mit Siegermiene.

      »Aber woher weißt du so genau, daß es nicht bloße Erscheinungen eines ganz normalen Gewitters waren?«

      »Weil ein ganz normales Gewitter keine bunten Blitze erzeugt!« triumphierte Contardo. »Nein, Linny, es waren Polarlichter, da bin ich mir sicher! Hundertprozentig! Das Gewitter der gestrigen Nacht trat nur zufällig zur selben Zeit auf.«

      »Zufälle gibt es überhaupt nicht«, warf Linny ein. »Das hat Mama jedenfalls immer gesagt.« Sie seufzte. Dann fügte sie rasch hinzu: »Wieso heißen diese Lichter überhaupt ›Polarlichter‹?«

      »Weil sie früher ausschließlich nahe der Pole, also an Nord- und Südpol aufgetreten sind. Nun aber, da wir unaufhaltsam auf eine Umpolung des Erdmagnetfeldes zusteuern, wird der Schutzschild der Erde immer schwächer und schwächer«, fachsimpelte der Junge, während er gedankenverloren einen Bleistift in der Hand jonglierte. »Und deshalb können die geladenen Teilchen der Sonnenwinde ungehindert in unsere Atmosphäre eindringen – und das überall, nicht bloß an den Polen, wie zuvor. Aus diesem Grund sind Polarlichter inzwischen überall auf der Erde zu beobachten.«

      »So langsam geht mir ein Licht auf«, sagte Linny halb scherzend, halb ernsthaft. Insgeheim bewunderte sie Contardos naturwissenschaftlichen Verstand. Sie selbst interessierte sich mehr für Sprachen und Geschichte. Contardo aber war ein wahres Physikgenie. Glücklicherweise sah er nicht aus wie einer dieser verstaubten Tüftler. Der Junge war ungewöhnlich groß für seine beinahe fünfzehn Jahre. Dabei war er schlank, ein wenig zu schlank vielleicht, aber das würde sich gewiß ändern, wenn er einmal älter wäre. Außerdem hatte er besonders schöne Hände. Sie waren kräftig, aber nicht grob. Die starken Venen, die unter der Haut hervortraten, gaben ihnen ein männliches Aussehen, das Linny besonders gefiel. Sie empfand, daß seine Hände viel erwachsener und reifer wirkten als Contardo selbst, der in diesem Moment mit seinem wildgewachsenen Haarschopf herumwirbelte, seine schmale Brille abnahm und vom Bildschirm des Computers aufblickte. Es sah aus, als hätten sich die vielen, kleinen, ungeordneten Gedankenteilchen, die in seinem Kopf umherzukreisen schienen, just in dieser Sekunde geordnet und zu einem Geistesblitz formiert.

      »Und gerade ist dir eingefallen, was diese seltsamen Harpyien damit zu tun haben!« lächelte Linny.

      »Ganz genau!« Contardos