Carola Hipper

Die Abenteuer der Linny Witt


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Wind durch die Lüfte tragen lassen, bevor sie das Land verwüsten. Der Sturm ist nicht nur Vorbote ihrer Taten, sondern auch ein Gehilfe der Harpyien. Magnetstürme treten aber gewöhnlich nur alle elf Jahre auf. In diesem Jahr scheinen wir auf einen sogenannten Kumulus zuzusteuern, auf ein Zusammentreffen mehrerer Phänomene also, die das Wirken der dunklen Kräfte begünstigen. Darüber hinaus sind es nur noch wenige Tage bis zur Halloween-Nacht, der Nacht, in der die Toten zur Erde zurückkehren, um ihr Unwesen zu treiben. Es würde mich nicht wundern, wenn die gesamte Stadt bis Halloween im ›Traumland‹ gefangen bliebe, damit die Menschen nicht unfreiwillig zu Zeugen der Wiederauferstehung des Bösen werden. Die dunklen Kräfte könnten sich die Magnetstürme zunutze machen, um das Gute gewissermaßen umzupolen und auf die andere Seite zu ziehen. Besonders junge Magier und Hexen, die ihren Weg noch nicht gefunden haben, dürften an Halloween anfällig sein für den Einfluß des Bösen. Ich verfolge seit einigen Wochen die Manifeste und Prophezeiungen auf den Internetseiten der Gothikgemeinde. Dort heißt es, daß der Fürst der Finsternis im Jahre des Windes zur Erde zurückkehren wird, um das Erbe des Samhain anzutreten.«

      »Nun fang du nicht auch davon an!« entfuhr es Linny unwillkürlich.

      Contardo stutzte. Er kniff die Augen zusammen und fixierte Linny mit strengem Blick, als er sagte:

      »Was weißt du darüber? Nun aber raus mit der Sprache, sonst werde ich ungemütlich!«

      Linny schreckte zusammen. Solchermaßen entschlossen hatte sie Contardo selten erlebt. Gewöhnlich verhielt er sich ihr gegenüber ausgesprochen höflich und zuvorkommend.

      »Also, weißt du-«, druckste sie, »möglicherweise habe ich in der letzten Nacht von diesem ›Fürst der Finsternis‹ geträumt-« Linny lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, als erwarte sie ein Donnerwetter.

      »Was genau hast du geträumt?« Contardo warf ihr einen festen Blick zu, der keine weiteren Ausflüchte zu dulden schien. Linny faßte sich ein Herz und erzählte ihrem Freund die ganze Geschichte. Sie erzählte von Hunibald, dem Dreiunddreißigsten und von seiner seltsamen Prophezeiung über die anstehende Hexentaufe und von den Mächten der Dunkelheit.

      Während Linny ihre Geschichte erzählte, nickte Contardo immer wieder wissend mit dem Kopf, als habe er alles, was Linny berichtete, vorausgesehen. Als sie geendet hatte, sagte er: »So etwas wie das habe ich mir beinahe gedacht. Es war nicht klug von dir, Linny, deinen Taufpaten zu verärgern und ihn einfach davonfliegen zu lassen.«

      »Du meine Güte, was hätte ich denn tun sollen?« erwiderte Linny. »Mich auf den nächstbesten Besen schwingen und ihm hinterherfliegen?«

      »Keine schlechte Idee!« Contardo verzog die Mundwinkel zu einem spitzbübischen Lächeln.

      »Also ehrlich, jetzt habe ich aber genug!« Linny verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich verstehe nicht, wie du an diesen Zauberkram überhaupt glauben kannst! Sehr viel wahrscheinlicher ist doch, daß ich den sprechenden Vogel und seine magische Botschaft von meiner Hexentaufe und einer dunklen Bedrohung nur geträumt habe!«

      »Nüchtern betrachtet spricht einiges dagegen, daß es bloß ein Traum war«, erwiderte Contardo langsam und konzentriert.

      »Und was machen wir jetzt?« wollte Linny wissen.

      »Wenn ich das richtig sehe, haben wir dreizehn Tage Zeit, um genügend Informationen zu sammeln. Wenn es soweit ist, nämlich an Halloween, bekommen wir vielleicht die Chance, die Auferstehung der dunklen Mächte zu verhindern.«

      »Vielleicht?!« wiederholte Linny. »Na, das sind ja großartige Aussichten!«

      »Wir sollten in jedem Fall die Zeit, die uns bleibt, nutzen, um alles herausfinden, was wir über unsere jetzige Situation, über deine Hexentaufe und über diesen dubiosen Samuel Slaughtermain in Erfahrung bringen können.«

      »Wäre es nicht klüger, nach einem Weg zu suchen, all die erstarrten Menschen aus ihrem Schlaf zu erwecken?« wandte Linny dagegen. »Es könnte ja immerhin sein, daß sie nach dreizehn Tagen nicht wieder aufwachen.«

      »Du hast recht: das wäre nicht gut. Wir brauchen mehr Informationen über Mythen, Zauberrituale, Mondphasen und Atomphysik!« sagte Contardo.

      »Mondphasen und Atomphysik – wenn du das in einem Atemzug sagst, klingt es ganz selbstverständlich. So, als hätte das eine etwas mit dem anderen zu tun.« Linny seufzte leise.

      »So ist es ja auch. Alles hat mit allem zu tun, alles hängt zusammen. Leider sind unsere Wissenschaftler allzu selten in der Lage, über die üblichen Grenzen hinauszudenken und außergewöhnliche Lösungen in Erwägung zu ziehen. Nichtsdestoweniger existiert ein innerer Zusammenhang zwischen den objektivierbaren Naturphänomenen und jenen Phänomenen, deren Ursprung wir noch nicht auf wissenschaftlichem Wege erklären können.«

      Nun tat Linny einen tiefen Seufzer und sagte: »Mußt du dich immer so kompliziert ausdrücken?« Dann sagte sie: »Jedenfalls müssen wir die erstarrten Leute wieder aufwecken, und zwar schnell! Was machen wir denn, wenn sie wirklich erst nach dreizehn Tagen aufwachen und womöglich nicht mehr wissen, was in dieser Zeit geschehen ist? Willst du ihnen dann erklären, daß eine böse Fee einen Schlafzauber über die Stadt verhängt hat und nun alle Bewohner der Stadt gleichzeitig an Gedächtnisschwund leiden? Das kauft uns doch kein Mensch ab! Am wenigsten Tante Verula! Die Leute werden das Ganze für ein Märchen halten oder für eine Halluzination, und uns zum bestenfalls Psychiater schicken!«

      »Denk positiv!« Contardo machte plötzlich ein vergnügtes Gesicht. »Ja, ja, wer weiß, womöglich irre ich mich, und der ganze Hokuspokus ist nichts als das Produkt unserer Phantasie. Dann verkleiden wir uns hübsch an Halloween und lachen darüber. Und wenn nicht, ich meine, wenn das alles keine Phantasterei ist, dann haben wir immerhin dreizehn herrliche Tage lang sturmfreie Bude! So oder so sollten wir uns der Herausforderung stellen, und etwas unternehmen!«

      »Gut, also, mehr Informationen müssen her! Woher bekommen wir die?« Linny deutete auf den Monitor.

      »Aus dem World-Wide-Web, richtig. Dort habe ich bereits recherchiert, und genau dort machen wir weiter«, entschied der Junge und drehte sich in seinem Sessel. Er wandte sich dem Monitor zu und rief mit wenigen Mausklicks eine Suchmaschine auf.

      »Was gibst du dort ein?« Linny schaute ihm neugierig über die Schulter.

      Sie selbst besaß keinen Computer. Tante Verula hielt nichts von diesen »Teufelskisten«, wie sie sie nannte. Doch Linny wußte sehr genau, daß ihre Tante für Anschaffungen dieser Art kein Geld übrig hatte.

      »Den Namen unserer Stadt und das Stichwort ›Zauberer‹ gebe ich ein«, erklärte Contardo, »vielleicht spuckt er dann eine Liste mit ortsansässigen Magiern aus.« Der Junge lächelte verschmitzt, so als glaubte er selbst nicht daran, daß die Suche Aussicht auf Erfolg haben könnte. Zu seiner Verwunderung erschien nach kurzer Ladezeit tatsächlich eine ganze Liste von Einträgen auf dem Monitor. Leider enthielten die ersten Websites entweder nur die Stadt selbst, oder allein die jeweiligen Zauberer, nicht aber beide zugleich. Nachdem sie fast zwei Dutzend Seiten ohne Erfolg durchsucht hatten, stießen sie auf die Homepage des selbsternannten Zauberers Zenobius, der, wenn man den Angaben auf seiner Website glauben durfte, im alten Dom im Zentrum der Stadt sein magisches Quartier bezogen hatte.

      »Endlich!« rief Contardo aus und ballte siegessicher die Faust. »Da haben wir einen!«

      »Falls deine Theorie stimmt, müßte er wie wir hellwach sein«, vermutete Linny. »Aber wird er sich nicht wundern, wenn wir einfach so bei ihm hineinschneien? Ich meine, dann wird er ja gleich vermuten, wir wären auch-«

      »-magische Geschöpfe?« vervollständigte Contardo Linnys Gedanken. »Sicher, er wird sofort wissen, wen er vor sich hat. Aber, was macht das schon? Aus meiner Sicht haben wir keine andere Wahl! Wir müssen ihn aufsuchen, um zu erfahren, was er weiß. Alternativ könnten wir weiter im Netz surfen. Aber die wirklich interessanten Dinge kann uns vermutlich nur ein Eingeweihter erzählen. Was wir brauchen, sind Informationen aus erster Hand.«

      »Dieser Zenobius, ist er gut oder böse?« wollte Linny