Carola Hipper

Die Abenteuer der Linny Witt


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stumm. »Ja, das dachte ich mir schon. Es hat sie alle erwischt, alle bis auf-«

      »Aber, was in aller Welt bedeutet denn das?« unterbrach Linny und schüttelte verständnislos ihren Kopf. »Und wieso sind wir zwei noch da? Ich verstehe gar nichts mehr!«

      »Heute morgen um halb sieben, als mein Vater nicht zum Frühstück kam, hatte ich sofort den Verdacht, daß etwas nicht stimmt. Immerhin ist er der Frühaufsteher in der Familie. Außerdem ist er berüchtigt für seine preußische Pünktlichkeit, wie du ja weißt. Merkwürdig schien mir auch, daß der lokale Radiosender nicht ausstrahlte. Keine Nachrichten, kein Morgenmagazin, nichts! Totale Sendepause! Und das, obwohl der Strom wieder funktioniert. Daran konnte es also nicht liegen«, stellte Contardo fest.

      »Aber was, um Himmels willen, ist denn dann hier los? Wo ist dein Vater? Wo sind all die anderen Leute? Wohin sind alle verschwunden?« Die Situation war seltsam genug, und Linny war froh und erleichtert, wenigstens einen Menschen gefunden zu haben, mit dem sie würde reden können.

      »Nur keine Sorge, die Leute sind gar nicht wirklich verschwunden«, sagte Contardo.

      »Aber sie sind nicht mehr da!« rief Linny aus.

      »Das stimmt nicht ganz. Es sieht nur so aus«, versuchte der Junge sie zu beruhigen. »Komm mal mit, Linny, ich zeige dir etwas.«

      Bevor Linny protestieren konnte, packte Contardo sie am Arm und führte sie zum Nebenzimmer. Es war das Schlafzimmer seines Vaters.

      »Was willst du mir zeigen? Wohin gehen wir?« wollte Linny wissen.

      »Scht«, machte Contardo und bedeutete ihr, still zu sein.

      Mit einer vielsagenden Handbewegung öffnete er die Tür zum Schlafzimmer seines Vaters und spähte durch den Türspalt. Herr Nonymos lag noch immer in derselben, unnatürlich erstarrten Position da, in der Contardo ihn vorgefunden hatte, als er seinen Vater zum Frühstück rufen wollte.

      »Schau her!«

      Der Junge schob Linny vorsichtig in den Raum hinein. Beim Anblick von Contardos Vater begann das Mädchen zu begreifen. Und doch wollte Linny ihren Augen nicht ganz trauen, zu unwirklich erschien ihr die Szenerie.

      »Schläft er?«

      Linny blinzelte ungläubig. Dort drüben auf dem Bett lag Contardos Vater in einer denkbar unnatürlichen Haltung. Halb lag er auf der Seite, den Oberkörper leicht nach vorn geneigt. Ein Arm ragte ausgestreckt unter der Decke hervor, gerade so, als habe Herr Nonymos die Hand nach dem Glas Wasser ausgestreckt, das seitlich neben dem Bett auf einem kleinen Tisch stand. So lag er da, ohne sich zu rühren, erstarrt in dieser eigenartigen Pose, bewegungslos und: ohne zu atmen, so schien es.

      »Sein Körper ist wie versteinert«, erklärte Contardo. »Aber wenn du genau hinschaust, dann bemerkst du, daß sich sein Brustkorb ganz leicht hebt und senkt. Er ist tatsächlich in eine Art Trance gefallen. Und er ist nicht der einzige. Auch alle anderen Menschen scheinen in dieser hypnotischen Erstarrung zu ›schlafen‹. Deshalb sind die Straßen leer, und deshalb ist niemand ist zur Arbeit gekommen. Sie alle sind in der vergangenen Nacht, irgendwann während des Sturms, eingeschlafen, und wie mir scheint, kann es ein Weilchen dauern, bis sie wieder aufwachen.«

      »Wie meinst du das? Wenn sie bloß eingeschlafen sind, dann könnten sie doch ganz einfach wieder aufwachen, wie jeden anderen Morgen auch!« entgegnete Linny.

      »Ich fürchte, das wird in diesem Fall nicht so einfach sein.«

      Contardo seufzte tief, während er Linny sanft zur Tür hinaus auf den Korridor schob.

      »In der letzten Nacht ist etwas Seltsames geschehen. Vollständig erklären kann ich es bislang nicht. Dafür fehlen mir noch einige Informationen. Aber es sieht so aus, als habe mein Vater mit seiner Theorie, daß sich das Magnetfeld der Erde langsam umzukehren beginnt, tatsächlich recht behalten.«

      Der Junge führte Linny zurück in sein Zimmer, und sie setzten sich an seinen Schreibtisch.

      »Schön und gut. Aber was hat das alles mit dem Magnetfeld der Erde zu tun? Und warum sind wir beide nicht in diesen Dornröschenschlaf gefallen?« wollte Linny wissen.

      »Das sind berechtigte Fragen. Leider habe ich noch nicht alle Antworten parat. Ich bin noch bei der Analyse«, räumte Contardo ein. »Lediglich eine Arbeitshypothese hätte ich anzubieten. Aber es ist nichts weiter als eine Theorie! Erinnerst du dich an das Gewitter in der letzten Nacht?«

      »Natürlich erinnere ich mich!« gab Linny zurück. »Der Sturm war ja nicht zu überhören!«

      »Richtig. Aber das war kein gewöhnlicher Sturm«, bemerkte Contardo.

      »Schön. Dann war es eben ein ungewöhnlicher Sturm!« Linny ließ ihren Stuhl ungeduldig hin und her kippen.

      »Das kann man wohl sagen!« Contardo zog die Stirn in Falten. »Sag mal, hast du in der letzten Nacht irgend etwas Ungewöhnliches bemerkt, ich meine, vom Sturm abgesehen?«

      »Abgesehen vom Sturm? Na ja-« druckste Linny und überlegte, ob Contardo sie für verrückt halten würde, wenn sie ihm von Hunibald, dem sprechenden Papagei, erzählte. Mit einem Mal hatte sie es gar nicht mehr eilig, ihm von dem nächtlichen Traumerlebnis zu berichten. Nach einer zögerlichen Pause sagte sie:

      »Also, ich konnte unheimlich schlecht einschlafen. Und als ich endlich eingeschlafen war, habe ich lauter verrückter Sachen geträumt!«

      »Hm«, sagte Contardo, »das ist wohl ganz normal in einer so stürmischen Nacht. Und sonst ist nichts geschehen?«

      »Ach, ich weiß nicht mehr«, lenkte Linny ab. »Aber nun erzähl doch erst einmal, was du über die Sache in Erfahrung gebracht hast!« fügte sie rasch hinzu.

      »Schau her, dann ich zeige dir, was ich herausgefunden habe«, sagte Contardo und rückte den Monitor in die rechte Position, damit sie gemeinsam Einblick in seine Computerdaten nehmen konnten. »Es ist aber nur eine vage Theorie«, gab er zu bedenken.

      »Schon gut«, sagte Linny. »Sag schon, spann mich nicht länger auf die Folter!«

      »Was weißt du über die Harpyien?« begann Contardo.

      »Über die Harpy- was?« Linny blickte ihren Freund verständnislos an.

      »Nichts also«, dachte der Junge laut. »Harpyien sind Sturmgöttinnen: halb Mensch, halb Vogel, mit wunderschönen Flügeln und prächtigem Haar.«

      »Das ist nicht dein Ernst, oder?« erwiderte Linny ungläubig.

      Doch Contardo setzte seinen Vortrag unbeirrbar fort: »In der klassischen Mythologie galten sie als Räuberinnen und Plünderinnen. Sie waren sehr gefürchtet, denn sie kamen mit dem Sturm, und sie tobten durch die Lande wie auf Kriegszügen, und sie raubten und plünderten schamlos. Mit ihrer Räuberei kamen sie unbehelligt davon, weil sie während ihrer Beutezüge einen dreizehntägigen Schlaf über alle Menschen und Tiere brachten, die sich im Umfeld des Sturmes aufhielten.«

      »Prima! Eine wirklich schöne Erklärung! Aber wenn tatsächlich diese Harpyien über die Stadt hinweggefegt sind, wieso liegen dann wir zwei nicht auch in süßen Träumen?« wunderte sich Linny.

      »Der Schlafzauber der Harpyien hat keine Wirkung auf Hexen und andere magische Wesen«, stellte Contardo nüchtern fest. Es entstand eine lange Pause, in der Linny ihren Freund fassungslos anstarrte. Endlich sagte sie:

      »Du willst doch nicht etwa andeuten, daß du mich für eine Hexe hältst?!«

      Bei Contardos Worten war Linny das Blut in den Kopf geschossen. Was wußte er wirklich über sie? Ahnte er am Ende mehr, als sie selbst über sich zu wissen glaubte? Sollte sie ihm vielleicht doch von dem nächtlichen Besuch des Papageis erzählen? Nein, besser nicht. Sie glaubte ja selbst kaum mehr, was sie in der vergangenen Nacht erlebt hatte. Plötzlich brach Contardo das Schweigen, indem er unverblümt feststellte: »Selbstverständlich halte ich dich für eine Hexe! Bist du etwa keine?«

      »Erlaube mal! Das ist ja sehr schmeichelhaft! Oder willst du