er mit dem Gedanken, Gangnam zu verlassen und durch die Gassen zu schlendern, die täglich von gewöhnlichen Leuten benutzt wurden. Obwohl es für ihn eher die ungewöhnlichen Menschen waren. Er hatte diese versnobte Plastikwelt satt, in der er zu versinken drohte, bis er den Grund der Bedeutungslosigkeit erreichte. Der Reiz lag im Normalen.
Fast hätte er die Klippe des Tiefschlafes erreicht, als ihn ein schrilles Geräusch in die Realität zurückholte. Sein verschwommenes Zimmer nahm feste Strukturen an, materialisierte sich und mit schläfrigem Blick bemerkte er den grellen Bildschirm seines PC´s. Hatte er tatsächlich vergessen ihn auszuschalten? Das Chatfenster von Browneyes55 hatte sich geöffnet. Eilig richtete sich Haekwon auf und fuhr sich mit der Handfläche über die kurzen Haarstoppel. Kurz hielt er inne und musste lächeln. Schließlich benahm er sich wie ein verliebter Teenager, der sein erstes Date hatte. So absurd es auch war. Irgendetwas zog ihn magisch an, ohne zu wissen, was es war. Nicht nur der grelle Bildschirm hatte Ausstrahlung, sondern auch die Person am anderen Ende der Leitung.
Browneyes55: Sorry für meine späte Antwort.
Bluebird27: Macht nichts.
Browneyes55: Ich gehe nicht mehr zur Schule. Ich muss Geld verdienen. Die Behörden leime ich und das Schulgebäude habe ich seit Monaten nicht mehr von innen gesehen.
Bluebird27: Was sagen denn deine Eltern dazu?
Haekwon biss sich auf die Faust. Wieder so eine Frage, die Browneyes55 einschüchtern konnte. Erleichtert las er die weiteren Zeilen, die ihn wieder in einen absoluten Wachzustand versetzten. Die Digitaluhr am unteren Rand des Screens zeigte 01:31 Uhr an. Den Unterricht heute würde er also mit Dösen verbringen.
Browneyes55: Ich bin Waise. Meine Eltern kenne ich gar nicht, daher weiß ich nicht, was sie dazu sagen würden. Stolz wären sie bestimmt nicht.
Bluebird27: Meine Eltern sind auch nicht stolz auf mich.
Browneyes55: Sollen wir uns Treffen?
Wie ein Fausthieb aus einer unerwarteten Richtung traf es Haekwon. Aus Erfahrung wusste er, dass all die Magie eines Chats in Enttäuschung umschlagen konnte, wenn man der tatsächlichen Person begegnete. NewWorldOrder22 war in Wirklichkeit ein verpickelter Junge mit Hornbrille gewesen, der artig seine Klavierstunden nahm und im gleichen Bezirk wie Haekwon wohnte. Eine herbe Enttäuschung, die sich nicht wiederholen sollte.
Browneyes55: Was ist jetzt? Sollen wir uns mal treffen?
Bluebird27: Ja. Wo und wann?
Wenn das mal kein Fehler war. Nun gab es kein Zurück mehr.
Browneyes55: In der Nähe vom Seoul-Tower gibt es einen Odeng-Stand, wo ich regelmäßig esse. Lass uns dort treffen.
Bluebird27: Ok, wieso nicht.
Browneyes55
In schrillen Tönen erwachte das schwarze Handy zum Leben. Somewhere over the Rainbow. Die Melodie, die seine Ruhe auf ewig störte. Ein neuer Kunde, eine neue Adresse und ein neuer Weg, den er mit dem klapprigen Fahrrad zurücklegen musste, da er keinen Führerschein besaß, um einen Motorroller fahren zu dürfen. Wer zum Teufel bestellte sich um 8 Uhr morgens eine Nudelsuppe? Hatten die Menschen keine anderen Sorgen als ihren Wanst mit Suppe zu füllen? Mit trägen Bewegungen robbte Soo-Jung zum Telefon, dessen schrille Melodie zu seinem Ärger nicht abbrach. Dabei spürte er die Sonnenstrahlen, die dezent durch das Fenster fielen und seinen kahl geschorenen Schädel streiften.
„Ja!“ Müde und genervt wollte er klingen.
„Morgen du Schlafmütze.“ Die nervöse Stimme seines Vorgesetzten klang freundlich, aber ungeduldig.
„Wohin?“, fragte Soo-Jung, während seine Augen noch versuchten, sich an den neuen Tag zu gewöhnen.
„Jetzt werde mal nicht frech, Kleiner. Schließlich bezahle ich dein Gehalt und deine Miete. Also ändere deinen Ton oder ich schmeiß dich wieder raus.“
„Ist gut“, erwiderte Soo-Jung etwas milder.
„Zieh dich an und komm erstmal runter, dann gebe ich dir alles.“
Gyeong hatte aufgelegt, bevor Soo-Jung noch etwas sagen konnte. Als er nun aufrecht stand, wurde sein ganzer Körper von der Sonne umschmiegt. Nackt zu schlafen gehörte für Soo-Jung zum Leben dazu. Eine Marotte, die er wohl nie ablegen würde. Trotzdem genoss er die Wärme, die durch die Scheibe strömte und sich wie ein geschmeidiger Mantel über ihn stülpte. Im Blickfeld ein grauer Betonklotz. Voyeure hatten keine Chance, da die oberen Etagen leer standen. Für Soo-Jung war es nur eine Frage der Zeit, bis auch dieses Gebäude abgerissen werden würde, um einem Schickimickieinkaufszentrum Platz zu machen. Ihn widerte dieser Gedanke an. Mit Mühe streifte er sich die zerfledderte Jeans über die Beine. Hatte er zugenommen? Letztendlich war es ihm auch egal. Nach der üblich nachlässigen Reinigungsprozedur griff er sich das verwaschene T-Shirt von Hard Rock Café vom Boden und verließ seine bescheidene Behausung. Dabei knallte er die Tür laut zu, damit sein Chef wusste, dass er sich auf den Weg befand. Es war ein Fluch, dass sich der Nudelimbiss im gleichen Gebäude wie seine Wohnung befand. Aus einer vermeintlichen Bequemlichkeit entwickelte sich langsam eine riesige Lästigkeit. Es war Soo-Jung selbst, der die Initiative ergriffen und den tüchtigen Gyeong nach einem Job gefragt hatte. Das Angebot war anfangs zu verlockend gewesen: Mietfreies Wohnen und ein spärliches Gehalt. In seiner jugendlichen Naivität war er auf diesen Deal eingegangen. Alles war besser als in die Schule zu gehen, die Soo-Jung mehr hasste als seine Eltern, die er nie kennenlernen durfte. Waren sie tot oder wollten sie einfach nichts von ihm wissen? Waren sie ihm egal, so waren auch ihm sie egal.
Der klein gewachsene Gyeong stand gerade in der Kochnische, als Soo-Jung den Laden betrat. Mit der Stupsnase über einem dampfenden Topf gebeugt schloss sein Chef genießerisch die Augen. Ein paar graue Haare sprossen ihm bereits wie verdörrte Tannennadeln aus seinem schwarzen Schopf. Gyeongs Frau, die Soo-Jung nur selten zu Gesicht bekam, da sie die meiste Zeit Daheim die Kinder hütete, war gerade dabei, mit einem nassen Lappen die wenigen Tische abzuwischen. Ihren Namen hatte sie ihm mal gesagt, aber was sein Namensgedächtnis anging, glich es eher einem löcherigen Taschentuch. Ansonsten war sie eine sehr schweigsame Person, die zudem noch viel jünger aussah als ihr Mann. Fast meditativ drehte Gyeong seinen Kopf weg vom Dampf und bemerkte endlich seinen Lieferjungen.
„Probier mal. Ist ein neues Rezept.“
Den bereits benutzten Löffel wischte er an seiner Schürze ab und tauchte ihn in die scharfe, brodelnde Brühe. Innerlich ekelte sich Soo-Jung, als ihm Gyeong den dampfenden Löffel mit Suppe entgegenhielt. Wie ein Vogelbaby reckte er seinen Kopf nach vorn, um die Neukreation seines Vorgesetzten zu kosten. Überraschend gut schmeckte sie.
„Und?“, fragte Gyeong mit Augen, in denen große Erwartungen aufblitzten.
„Ist ok“, meinte Soo-Jung.
„Ist nur ok?“ Beleidigt zog Gyeong den Löffel wieder zurück. „Du hast doch von gutem Geschmack keine Ahnung, deswegen bin ich der Koch, und du nur der Lieferjunge.“
„Klar“, stimmte Soo-Jung artig zu. Der neue Tag sollte nicht mit einem Streit beginnen.
Gyeong stieß einen lauten Seufzer aus, während er Soo-Jung einen zerknitterten Zettel in die Hand drückte. Vom Kochdampf war seine Haut im Laufe der Jahre weich und rosig geworden. Mit einer flüchtigen Handbewegung grüßte Soo-Jung Gyeongs Frau, die nun gerade dabei war, die gelben Tulpen auf der Fensterbank des kleinen, aber gemütlichen Geschäftes zu gießen. Eine gewisse Erleichterung spürte der Lieferjunge, als er endlich den Laden verlassen hatte und nun seinen bestimmten Arbeitsplatz betreten durfte, die Stadt. Ein Gefühl von Freiheit durchströmte seine Adern, wenn er mit dem Fahrrad durch verwinkelte Gassen, über Hauptstraßen, die vor fahrendem Blech überquollen, oder durch künstliche Parkanlagen