Nancy Salchow

Das Haus der Luftblumen


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Bild von Piet.

      „Profi“, summte ich mir erneut zu. „Du bist ein Profi. Und Profis lassen sich nicht durch überflüssige Emotionen von ihrer Arbeit ablenken.“

      Als nach einem längeren Intro die erste Strophe folgte, die er mit einem Wechsel im Rhythmus andeutete, begann schließlich der vertraute Ablauf in meinem Kopf. Wortfetzen reihten sich zusammenhanglos aneinander, um mit jedem weiteren Ton langsam Form anzunehmen.

      Ein Gefühl der Erleichterung überkam mich. Die Gedanken an Piet hatten mich nur kurzzeitig aus dem Konzept gebracht, taten jedoch der instinktiven Suche nach einem geeigneten Thema für den Song keinen Abbruch.

      Die Mollakkorde hauchten dem Song Wehmut ein. Eine Wehmut, die nur allzu gut zu meiner eigenen Stimmung passte. Vielleicht wartete der Song ja auf einen Text über einen Gitarristen, der seiner ambitionierten Songtexterin durch eine viel zu vertrauensselige Freundschaft Hoffnungen machte, die er mit einem denkwürdigen Wochenende krönte, nur um ihr wenige Wochen später mitzuteilen, dass seine Freundin, mit der er eigentlich Schluss gemacht hatte, ein Kind von ihm erwartet.

      Ich klickte erneut auf Pause, um den Worten die Chance zu geben, sich in Ruhe zu sammeln. Noch bevor ich mir Gedanken über das Thema des Songs machen konnte, tauchten die ersten Zeilen wie eine Offenbarung vor meinem inneren Auge auf.

       Ich hab zu lange gefehlt

       In deinen Zukunftsskizzen

       Viel zu lange gewartet

       Auf einen Platz im Sitzen

      Ich atmete tief ein. Die Detailliertheit, in der sich die Worte zu einem Textanfang gesammelt hatten, irritierte mich. Woher war der Einfall dazu gekommen, so plötzlich und ohne jede Vorankündigung? Lag der Grundstein dieser Zeilen womöglich in bereits existierenden Textbausteinen, die ich vor längerer Zeit geschrieben und nun unbewusst abgerufen hatte?

      Ich versuchte, mich zu erinnern. Nein, diese Worte waren neu. Noch dazu auf seltsame Weise fremd, fast so, als hätte ich sie irgendwo anders aufgeschnappt. Ohne weiter darüber nachzudenken, schrieb ich die Zeilen, die in meinem Kopf herumschwirrten, in das offene Dokument meines Laptops.

       Ich hab zu lange gefehlt

       In deinen Zukunftsskizzen

       Viel zu lange gewartet

       Auf einen Platz im Sitzen

       Nur ein Stehplatz am Fenster

       In stickigen Massen

       Um am Ende mich selbst

       Auf der Strecke zu lassen

      Mit offenem Mund starrte ich auf den blinkenden Cursor unter dem Text. Waren das wirklich meine Worte? Und was hatten sie zu bedeuten?

      Für gewöhnlich schrieb ich die ersten Zeilen aus einer Laune heraus, um sie dann später in Richtung eines bestimmten Themas zu lenken. Hier war jedoch nur allzu deutlich, dass das Thema bereits feststand, ohne dass ich mir vorher Gedanken darüber gemacht hatte.

      Doch meine Verwunderung hielt nicht lange an, viel zu fordernd überkamen mich die nächsten Textzeilen, die ich wie automatisch in das Dokument schrieb.

       Es tut mir leid, Mella. Ich war ein gefühlskaltes Arschloch. Was auch immer geschehen ist, rechtfertigt nicht die Art und Weise, wie ich dich in den letzten Monaten behandelt habe.

      Ich stockte. Was um Himmelswillen hatte das zu bedeuten? Woher kamen diese seltsamen Zeilen? Und wer war Mella? War ich überarbeitet und nicht mehr in der Lage, mich von äußeren Einflüssen zu lösen?

      Doch welche Einflüsse sollten das sein? Ich hatte weder ferngesehen noch im Internet gesurft. Es war der erste Abend in meinem Schreibexil, außerdem erst kurz nach 21 Uhr. Somit fiel auch das Argument der Übermüdung weg. Aber wie sonst erklärten sich die fragwürdigen Worte?

      Gerade als ich die sonderbaren Zeilen löschen wollte, blinkte das Display meines Handys auf. Irritiert griff ich danach, um beim Blick auf den aufleuchtenden Namen für einen Moment den Atem anzuhalten.

      Piet.

      Ich spielte mit dem Gedanken, nicht ranzugehen. Gleichzeitig war die Vorstellung, ihn zu ignorieren, unerträglich.

      „Nanu. So spät noch ein Lebenszeichen vom Meister aller Gitarristen?“

      „Du weißt, dass ich es hasse, wenn du mich so nennst.“

      „Nein, Piet. Du liebst es.“

      Sein Lachen versetzte mir einen kurzen Stoß.

      „Du hast recht“, antwortete er. „Ich liebe es. Aber nur aus deinem Mund.“

      „Warum rufst du an?“

      „Ich hab an dich denken müssen.“

      Gerade als ich gegen seine unangebrachten Anspielungen protestieren wollte, setzte er seinen Satz fort: „Besser gesagt, an dich und das, was du wohl zu unseren Demos sagst.“

      „Ich bin heute erst angekommen, Piet. Was erwartest du?“

      „Ich erwarte nichts. Ich hoffe nur. Dass dir die Songs gefallen. Dass sie dich inspirieren. Dass sie …“

      „Es ist viel zu früh, um mir einen ersten Eindruck zu verschaffen. Ich habe die Zeit bisher in erster Linie genutzt, um meine Gedanken zu sortieren.“

      „Heißt das, du hast noch gar nicht reingehört?“

      „Doch. Den ersten Track habe ich gehört, zumindest so lange, bis mich der Anruf eines ungeduldigen Gitarristen unterbrochen hat.“

      Dasselbe Lachen. Derselbe Stoß, den es mir versetzte.

      „Tut mir leid“, antwortete er. „Ich bin unverbesserlich, ich weiß. Vermutlich liegt es daran, dass ich noch immer ziemlich aufgeregt bin, weil du endlich wieder mit im Boot sitzt.“

      „Das Boot, in dem ich sitze, ist im Moment ein Einzelboot, Piet. Und das ist auch gut so.“

      „Ich weiß. Ich wollte nur …“

      „Du wolltest nur fragen, ob ich nicht vielleicht bereits an der ersten Hitsingle eures neuen Albums arbeite.“

      „Sozusagen.“

      „Bisher kann ich leider mit keinem Ergebnis dienen.“

      „Das habe ich auch nicht erwartet. Vielleicht wollte ich einfach nur, dass du weißt, dass wir es lieben werden. Was auch immer du fabrizierst.“

      „Pass auf, dass du deinen Honig nicht zu früh verteilst. Am Ende enttäusche ich euch noch.“

      „Das ist ausgeschlossen.“

      „Nichts ist ausgeschlossen. Das wissen wir beide, Piet.“

      „Vielleicht ist es besser, wenn ich dich jetzt in Ruhe arbeiten lasse.“

      „Vielleicht.“

      „Mach’s gut, Tina. Und wenn du irgendetwas brauchst oder reden willst …“

      „Ich weiß.“

      Ich hielt das Telefon noch eine ganze Weile, nachdem ich aufgelegt hatte, in der Hand. Der Klang seiner Stimme machte ihn für einen kurzen Moment wieder allgegenwärtig. Wie elektrisiert von den eigenen Emotionen versuchte ich, jedes Wort des Gesprächs zu rekonstruieren, jede Antwort zu deuten. Warum hatte er ausgerechnet jetzt angerufen, wo ich gerade dabei war, meine ersten zaghaften Ideen umzusetzen? War ihm denn noch immer nicht klar, dass mich jedes Gespräch mit ihm für Stunden aus der Bahn warf?

      Unfähig, mich weiteren Versuchen von Produktivität hinzugeben, klappte ich den Laptop zu und ließ mich rücklings auf das Sofa fallen. Jede Zeile, jeder Gedanke, der mich im Laufe des Tages beschäftigt hatte, alles war von einem Moment auf den anderen vergessen.