Nancy Salchow

Das Haus der Luftblumen


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      „Schuhe“, wiederholte ich abwesend.

      „Wir sind von neun bis sechs Uhr abends da.“

      „Ich bin mir nicht sicher, ob ich es schaffen werde.“ Die Tatsache, dass sie ein Dorf, das so klein war wie dieses, in ein Unter- und Oberdorf einteilte, hätte mich unter anderen Umständen zum Lachen gebracht.

      „Du musst es auf jeden Fall versuchen“, antwortete sie und presste die Lippen wie ein beleidigtes Kind aufeinander.

      „Versuchen werde ich es sicher, aber jetzt muss ich mich wirklich beeilen. Mein Termin wartet, und ich weiß noch nicht mal, was ich anziehen soll.“

      „Wenn du willst, kann ich dir beim Aussuchen helfen.“

      Beim Aussuchen helfen? Hatte diese Frau eine Wahrnehmungsstörung? War ihr denn nicht klar, dass wir uns seit vierzehn Jahren nicht gesehen hatten? Dass uns weder damals noch heute auch nur der Ansatz einer Freundschaft miteinander verband?

      „Das ist nett gemeint“, antwortete ich, während ich sie zur Tür begleitete, „aber ich werde schon etwas Passendes finden. Ich suche meine Klamotten immer erst kurz vorher heraus.“

      „Wenn du meinst.“

      „Ich schaffe das schon, keine Sorge.“

      „Na, dann viel Spaß bei deinem Termin.“

      „Mach's gut, Celine“, rief ich ihr von der Schwelle aus nach.

      „Mach's guhuuut“, sang sie regelrecht.

      Reflexartig ließ ich die Tür ins Schloss fallen und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Mit jedem Atemzug, den ich wie nach einem Dauerlauf von mir gab, wurde ich wütender auf meine Mutter. Warum war sie nur auf die Idee gekommen, meinen Aufenthalt preiszugeben? Und wie war ich darauf gekommen, ihn ihr zu verraten? Ihre Redseligkeit war schließlich nicht neu und ich nicht erst seit gestern ihre Tochter!

      Wie erstarrt verharrte ich eine Weile in dieser Position. Und wieder war es der eigentliche Grund meines Aufenthaltes, der sich in meine Gedanken schob. Das Album. Die Texte. Und die immer wiederkehrende Frage nach der Kraft, die ich dafür aufbringen musste.

      Das Telefonat vom gestrigen Abend lag mir noch immer im Magen. Wie viel Zeit hatte ich bisher mit meinen Gedanken an Piet verschwendet? Bereits zwei Versuche, eine Beziehung mit einem anderen Mann einzugehen, waren an meiner Angewohnheit gescheitert, jeden mit Piet zu vergleichen. Wollte ich mir nun auch noch meine einzige Leidenschaft von meinen eigenen Emotionen kaputtmachen lassen? Viel zu hart hatte ich dafür gekämpft, mir einen Namen in der Branche zu machen. Und ich liebte, was ich tat. Trotz oder gerade wegen der Dinge, die geschehen waren.

      Meine Gedanken wanderten zum Kleiderschrank. Nein. Umziehen konnte ich mich auch später noch. Der Laptop, der auf dem Sessel im Wohnzimmer lag, schien wesentlich verlockender. So gesehen hatte ich Celine noch nicht mal belogen. Ich hatte einen Termin, auch wenn ich diesen im Bademantel wahrnehmen konnte.

      Ich setzte mich aufs Sofa, zog den Laptop auf meine Knie und schaltete ihn ein. Wie gewohnt öffnete ich zuerst das Textprogramm, um den aktuellen Stand meiner Arbeit zu prüfen.

       Ich hab zu lange gefehlt

       In deinen Zukunftsskizzen

       Viel zu lange gewartet

       Auf einen Platz im Sitzen

       Nur ein Stehplatz am Fenster

       In stickigen Massen

       Um am Ende mich selbst

       Auf der Strecke zu lassen

       Es tut mir leid, Mella. Ich war ein gefühlskaltes Arschloch. Was auch immer geschehen ist, rechtfertigt nicht die Art und Weise, wie ich dich in den letzten Monaten behandelt habe.

      Erst jetzt fiel es mir wieder ein. Die seltsamen Zeilen. Der Name Mella. Was zum Teufel war in mich gefahren, als ich diesen Text geschrieben hatte? Woher kamen diese Worte, die so gar nichts mit einem Songtext zu tun hatten?

      Vielleicht war ich wirklich urlaubsreif.

      Ich löschte die Worte, bis nur noch die ersten beiden Reime standen, und las den Text erneut.

      Gar nicht mal schlecht für den Anfang. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ja, dieses Thema passte zur Stimmung des Songs. Was auch immer mir durch den Kopf gegangen war, als ich die Zeilen geschrieben hatte, sie waren wie gemacht für die Melancholie, die die Melodie des ersten Tracks ausstrahlte.

      Ich öffnete die Audiodatei des Songs und konzentrierte mich auf die Akkorde. Piet hatte es sich angewöhnt, die Gesangslinie mit einem summenden Da-da-da festzulegen. Diese Vorgehensweise sollte es mir erleichtern, die Anzahl meiner Worte und Silben der Melodie anzupassen. Meistens hatte es jedoch zur Folge, dass sich meine Aufmerksamkeit mehr auf seine Stimme richtete als auf die Suche nach einem potenziellen Thema für den Song. Umso dankbarer war ich, dass die Zeilen dieses Textes scheinbar wie von selbst entstanden, denn noch bevor ich den Anfang ein weiteres Mal lesen konnte, fügten sich bereits die nächsten Worte hinzu – ohne lange darüber nachzudenken, ohne nach ihnen suchen zu müssen.

       Du warst zu lange hier

       Um nun zurückzubleiben

       Viel zu lange in mir

       Um dich jetzt kleinzuschreiben

       Doch jeder Satz mit deinem Namen

       Wirft mich weiter zurück

       Und nimmt mit jedem Wort

       Von meinem Plan ein Stück

      Zufrieden betrachtete ich die Zeilen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal gleich zwei Strophen in so kurzer Zeit verfasst hatte. Vielleicht tat mir der Abstand von meiner üblichen Umgebung tatsächlich gut? Vielleicht waren meine Gedanken an Piet für die Stimmung, die ich zum Schreiben benötigte, sogar eher förderlich als störend?

      Ich drückte auf den Repeat-Button. Leise summte ich die Melodie mit, um ihr gedanklich meine bereits verfassten Zeilen hinzuzufügen. Beim noch textlosen Refrain machte ich Halt. Einen stimmigen Songmittelpunkt zu finden war noch immer das Schwerste an meiner Arbeit. In der Regel benutzte ich für den Refrain kurze und einprägsame Halbsätze. Diesmal war ich in meinen Möglichkeiten sogar flexibler als sonst, da Piet bis auf die Tonlage keine Einschränkungen vorgab. Es musste eingängig sein, gleichzeitig aber auch zur Grundstimmung des Songs passen.

      Das Wort Lebenszeichen kam mir plötzlich in den Sinn, um sich nach und nach mit anderen Worten zu verbinden. Instinktiv schrieb ich die Zeilen unter die Strophen.

       Drei Wochen ohne ein Lebenszeichen von dir. Ich halte das nicht aus. Bitte melde dich, Mella.

      Kapitel 3

      Das Wasser umspielte meine von der Mittagssonne erhitzten Füße, als ich am Haff entlangspazierte. Bis auf ein älteres Paar, das in einer Einbuchtung im Schilf saß, und einem Mann, der mit seinem kleinen Sohn Steine auf dem Wasser balancieren ließ, war niemand in Sichtweite.

      Unliebsame Disteln unterbrachen die Perfektion des Strandes nur am Rande. Hier und da Reste einer Serviette oder ein Stück Papier, in dem die Fischbrötchen am nahegelegenen Campingplatz ausgegeben wurden. Dennoch strahlte das Bild, das sich jedem Haffbesucher bot, in erster Linie Ruhe und Unberührtheit aus.

      Mit dem Ziel, einen klaren Kopf zu bekommen, ließ ich die wenigen Menschen am Strand hinter mir und folgte mit energischen Schritten dem milden Wind, der wie unsichtbare Finger durch mein offenes Haar fuhr und den dünnen Stoff meines Hemdkleides aufblähte.

      Doch in meinem Kopf wurde nichts klarer. Vielmehr hatte