Nancy Salchow

Das Haus der Luftblumen


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Ein Ferienhaus nur für mich. Vier Wochen lang.

      Der Grund für meine Anwesenheit rückte plötzlich in weite Ferne. Stattdessen wuchs die Dankbarkeit für ein wenig Abstand vom Stress der Großstadt.

      Gerade als ich darüber nachdachte, den Liegestuhl aus dem Fahrradschuppen zu holen, streifte mich ein Windzug, der nicht so recht zur frühsommerlichen Stille passen wollte.

       Und wenn ich einfach zu ihm fahre? Wenn ich vor ihm stehe, wird er mir zuhören müssen.

      Instinktiv öffnete ich die Augen. Was war das? Wer war das?

      Aufgeschreckt schaute ich mich um. Ich war sicher, eine Frauenstimme gehört zu haben, doch weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.

      Ich erhob mich von der Bank und ging um das Haus herum, doch weder auf dem Sandweg noch in der Nähe des Hauses war auch nur die Spur einer Person zu erkennen. Mit verschränkten Armen vor der Brust blieb ich neben der Eingangstür stehen. Hatte sich Celine wieder einmal angeschlichen, weil sie gerade rein zufällig in der Nähe war?

      Obwohl ich im Schutz der Hauswand stand, streifte mich erneut ein Windzug. Diesmal sogar etwas heftiger als vor wenigen Minuten. Wieder war ich mir sicher, eine Stimme zu hören. Und wieder war keine Menschenseele zu sehen.

       Wenn wir uns direkt gegenüberstehen, wird er meinen Worten nicht mehr aus dem Weg gehen können.

      Es klang wie der Fetzen einer Unterhaltung. Eine Unterhaltung, die jedoch keinen Ursprung zu haben schien. Wie auf der Flucht vor den eigenen Gedanken stürmte ich zurück ins Haus und warf die Tür hinter mir ins Schloss. Wie war das möglich? War ich allergisch auf Ruhe? Funktionierte ich nur unter Stress und neigte zu Wahnvorstellungen, sobald ich aus dem üblichen Trubel herausgerissen wurde?

      Auf der Suche nach Ablenkung fiel mir ein Flyer auf, der an der Pinnwand neben dem Spiegel hing. Ein Abend mit Live-Musik in Percys Tanzscheune. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Kurz nach fünf. Genug Zeit also, um unter die Dusche zu springen und in ausgehtaugliche Klamotten zu steigen. Die Songschreiberei würde mir nach einer kleinen Pause sicher umso leichter von der Hand gehen.

      *

      Die Kneipe kam mir jetzt, zwölf Jahre, nachdem ich sie das letzte Mal betreten hatte, sehr viel kleiner vor. Die Tische und Stühle waren mit rotweiß karierten Tischdecken und Sitzkissen bespannt und strahlten noch immer einen gewissen Bierzeltcharakter aus; trotzdem erschien alles ein wenig enger als damals.

      Neben dem Tresen am Ende des Raumes deutete eine leichte Anhöhe die Bühne an. Nicht sehr groß, nicht sehr beeindruckend, aber das war es auch nicht, worauf es ankam. Man mochte es schlicht hier, und genau deshalb hatte ich mich entschieden herzukommen.

      Die Band war bereits dabei, ihre Instrumente aufzubauen und zu stimmen. Die prall gefüllte Kneipe deutete den baldigen Beginn des Konzertes an. So sah also ein musikalischer Abend auf dem Dorf aus. Genau wie früher. Und genau das Richtige, um sich von wirren Gedanken abzulenken.

      Ich setzte mich rechts außen an den Tresen und bestellte ein Bier, das nach wenigen Augenblicken mit einer Schaumspur zu mir herüber geschoben wurde. Selbst das hatte sich nicht verändert.

      „Nicht zu fassen“, hörte ich eine tiefe Stimme neben mir. „Tina, bist du's?“

      „Nick“, erwiderte ich überrascht. „Mensch, du hast dich ja kein bisschen verändert.“

      Und es stimmte wirklich. Noch immer trug er das rotblonde Haar raspelkurz. Auch das hellblaue Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte, passte zu dem Bild aus meiner Erinnerung. Einem Bild, das ich mir noch heute manchmal ins Gedächtnis rief. Nick. Der Junge, der sechs Schuljahre lang mein Banknachbar gewesen war. Der Junge, der seine Spickzettel bei Klassenarbeiten für gewöhnlich unter der Schuhsohle befestigte, um deren Inhalt in recht fragwürdiger Sitzhaltung abzuschreiben.

      Der Junge, der inzwischen 30 war.

      „Gut siehst du aus“, stellte er fest, mit einem Lächeln, das es mir leicht machte, ihm zu glauben.

      „Danke, du auch. Ist ja echt eine Überraschung, dass ich dich hier treffe.“

      „Nicht so eine Überraschung, wie dich hier zu treffen. Ich wohne schließlich hier, aber du?“

      „Ich auch.“ Ich lächelte, während er auf dem Barhocker neben mir Platz nahm. „Na ja, zumindest für vier Wochen. Ich hab ein Ferienhaus gemietet, unten am Strand.“

      „Verstehe. Heimatsehnsucht, richtig?“

      „So kann man es nennen. Oder aber die Suche nach dem geeigneten Umfeld für meine Arbeit.“

      „Du bist hier, um zu arbeiten?“ Er winkte der Kellnerin zu, die ihm ohne Worte ein Bier zubereitete. Man schien ihn hier zu kennen.

      „Ich schreibe. Und das kann ich am besten in einem ruhigen Umfeld.“

      Er lachte. „Ich wusste gar nicht, dass man Percys Tanzscheune als ruhiges Umfeld bezeichnen würde.“

      „Ich dachte, ein bisschen Ablenkung täte mir zwischendurch ganz gut.“

      Die Tatsache, dass er mich nicht fragte, was oder woran ich schrieb, beeindruckte mich auf seltsam subtile Weise. Er schien nicht gleichgültig, andererseits aber auch nicht aufdringlich interessiert. Eine Kombination, die für meinen Zustand genau die richtige war.

      Im Hintergrund begann die Band zu spielen. Die Akustik war etwas dumpf, dennoch (oder gerade deshalb) passte die Musik zur Umgebung. Die Leadsängerin, eine gut bestückte Blondine im knielangen Karokleid, seufzte die ersten Zeilen von „I'm So Lonesome I Could Cry“ ins Mikrofon.

      „Gar nicht mal schlecht“, stellte ich fest.

      „Die singen ständig hier“, sagte Nick. „Covern viel. Auch deutsche Sachen.“

      Ich nickte.

      Nick hielt sich an seinem Bierglas fest, während er zur Band hinüberschaute. Ein Umstand, der mich beruhigte. Keine übertriebene Aufmerksamkeit in meine Richtung. Keine nervtötenden Fragen. Er stellte die perfekte Gesellschaft dar. Gesprächig, aber nicht zu redselig. Freundlich, aber nicht zudringlich. Und gerade das machte aus dem sympathischen, aber nicht ernstzunehmenden Mitschüler von damals mit jedem Schluck aus meinem Bierglas einen umso angenehmeren Gesprächspartner.

      „Und was hat die Zeit mit dir angestellt?“, fragte ich. „Bist du in die Schlosserei deines Vaters eingestiegen, wie du es immer vorhattest?“

      „Anfangs schon“, antwortete er. „Ich habe meine Ausbildung gemacht und fünf Jahre dort gearbeitet. Aber irgendwann bekam ich Probleme mit meinem Rücken, war eine Zeitlang krank und habe dann umgeschult.“

      „Tatsächlich?“

      „Tatsächlich. Vor dir sitzt einer der wenigen Tagesväter Nordwestmecklenburgs.“

      „Nicht dein Ernst!“

      „Das hättest du deinem verschlafenen Banknachbarn nicht zugetraut, oder?“

      „Na ja, ich bin nur überrascht, das ist alles.“

      „Ich habe eine eigene kleine Betreuungseinrichtung neben der Firma meines Vaters. Derzeit sind es fünf mehr oder weniger entzückende Sprösslinge, die sich täglich freiwillig in meine Obhut begeben.“

      Ich erwischte mich bei dem Gedanken, ob er verheiratet war, oder zumindest liiert. Und wenn ja, wo war sie, wenn nicht hier bei ihm?

      „Klingt gut“, sagte ich und erschrak im selben Moment über die Einfallslosigkeit meiner Antwort. War es möglich, dass er mich nervös machte?

      Nein. Eher war es der Umstand, mich näher mit einem Mann zu unterhalten, der mich verwirrte. Seit Piet waren meine Anstrengungen, mich auf Gespräche (geschweige denn mehr) mit anderen Männern einzulassen, selten geworden, und ich selbst zur Einsiedlerin in einer Welt voller Worte.

      „Wenn du ein bisschen Abwechslung