Süden des Toten Meeres bis tief nach Jordanien hinein. Totes Land, dem nicht das Leben, sondern die Religionen entsprossen. Als ich den Berg herunterkam, setze ich mich in einigem Abstand auf einen Felsen und betrachtete die Umrisse des Berges: wuchtig, abweisend, erratisch, ein Ort des Kampfes und der Niederlage - und ein Symbol der jüdischen Selbstbehauptung. Denn trotz ihrer Niederlage am Berg Massada waren die Juden zurückgekehrt, um den Berg wieder in Besitz zu nehmen. Das war der Stand der Dinge fast zweitausend Jahre nach der Tragödie von Massada. Doch weil niemand wusste, was die Zukunft bringen würde, weil nichts von Dauer war und alles sich ändern konnte, hatte sich die Israelische Armee entschlossen, ihre Wehrpflichtigen auf dem Berg Massada zu vereidigen. Bei Sonnenaufgang, wenn sich das Licht über die Weite des Landes ergoss, hoben die Soldaten die Hand zum Schwur auf ihr Volk, die uralten Umrisse des Römerlagers und der Rampe wie ein Menetekel für einen jederzeit möglichen Untergang vor Augen.
Bekanntermaßen galt in Israel die allgemeine Wehrpflicht für Männer und Frauen gleichermaßen. Nach der Ableistung der zwei bis drei Jahre langen Grundausbildung waren pro Jahr fünf Wochen Reserveübungen vorgeschrieben – und zwar immer mit der gleichen Truppe, was ein intensiveres Gefühl der nationalen Verbundenheit schuf als alle Workshops und Tagungen zusammen.
Am Toten Meer lernte ich, dass Israel auf drei Pfeilern ruht: auf der Religion, der Armee – und dem Wasser. Eine nationale Wasserleitung, gespeist aus großen Wasserreservoirs aus dem Küstengebiet und der Westbank durchzog das ganze Land und benötigte dafür 10 % des gesamten israelischen Energieaufkommens. Der Wasserverbrauch eines Israelis ohnehin ist fünf- bis zehnmal so hoch wie der eines Arabers. Mit diesem Wasser werden nur die Früchte angebaut, die in Relation zu den Weltmarktpreisen den höchsten Ertrag bringen: Orangen Avocados, Blumen statt Getreide.
Mit dem Grund der Suppenschüssel verhält es sich wie mit dem Boden der orientalischen Teekanne. Das Gehaltvollste befindet sich immer ganz unten.
In El Gedi hörte ich einen Israel-Witz. Ein junger Israeli erzählte ihn mir beim Frühstück in der Jugendherberge. „Worin unterscheiden sich die USA von Israel und was haben sie gemeinsam? Der Unterschied: In den USA gibt es 90 Prozent Idioten und 10 Prozent Intelligente. In Israel gibt es 90 Prozent Intelligente und 10 Prozent Idioten. Die Gemeinsamkeit: Die 10 Prozent stellen in beiden Ländern die Regierung.“
Langer Sabbat in El Gedi. Kein Bus fuhr. Keine Teestube hatte offen. Alles stand still. Keine Chance nach Jericho zu gelangen. Trampen war ausgeschlossen, weil kein Wagen fuhr. Aber auch wenn Wagen fahren würden, war Trampen in Israel praktisch kaum noch möglich, weil vor kurzem ein moslemischer Selbstmordattentäter sich und die israelische Familie, die ihn im Auto mitnahm, in die Luft gesprengt hatte. So setzte ich mich in den Garten der Jugendherberge und las das Buch von Angelika Schrobsdorff: „Jericho. Eine Liebesgeschichte“, eine Mischung von Erzählung und Reisebericht, die mir gut gefiel. „Aus Jericho hörte man nie etwas von Terroraktivitäten oder gar Anschlägen“, las ich. „Das jedenfalls war der Eindruck, den man als Fremder mitbekam, und wenn es ein falscher war, wussten die Jeriochoer Hass und Wut gut zu verbergen.“ Zwanzig Jahre waren seit der Abfassung dieses Buches vergangen, und wenn das Verbergen von Hass und Wut ein Maßstab war, dann waren die Dinge inzwischen so schlimm geworden, dass die Menschen ihren Hass und Grimm kaum noch verbergen konnten. So hatte ich es jedenfalls in Hebron erlebt.
Am nächsten Tag brachte mich ein Bus in vier Stunden von El Gedi nach Eilat. Diesmal flogen keine Steine. Flaches, totes Land, Bergketten am Horizont, ansteigende Temperaturen. Um mich herum israelische Touristen, die in Eilat Urlaub machen wollten - und Hans, der Holländer, der wie ich auf eigene Faust durch Israel reiste. An einer Raststätte kamen wir ins Gespräch, als wir zwei Hähnchenschenkel aßen. Hans zeigte mir Bilder seiner Frau und seiner Tochter, die er sehr liebte, obwohl es auch sehr gut täte, die beiden mal einige Wochen vom Hals zu haben. Sagte er und lachte. In Eilat teilten wir uns ein Zimmer in einem Privathaus, in dem jeder Quadratzentimeter im Dienste des Billigtourismus stand. Eine raffgierige Frau mit blondgefärbten Haaren hatte uns gleich am Busbahnhof abefangen und uns das Zimmer aufgeschwatzt. Ein Zim-mer mit zwei Holzbetten, einem Stuhl, einem Tisch und einem Fenster zum Hinterhof. Hans aus Holland war zufrieden, mir war es egal. Als erstes brachte er sein kleines Radio ans Laufen, und wir hörten Oldies, als wir unsere Rucksäcke auspackten.
In Timna zeigte die Wüste in der kalten Jahreszeit ihr Schokoladengesicht. Rund um den Mount Timna erhoben sich im Halbrund eine Reihe kleiner Bergketten, wunderlich schraffiert und im Schattenspiel der wandernden Sonne immer neu beleuchtet. In den Tälern dieser Berge befanden sich einige der ältesten Schmelzöfen der Welt, in denen schon in altägyptischen Zeiten die örtlichen Erze verarbeitet worden waren. Die auf dem Boden herumliegenden Kupferklumpen waren mit Blasebälgen und Blasrohren in einem Steinofen auf 1180 Grad erhitzt worden, bis sich das Kupfer vom Gestein gelöst hatte. Durch die Legierung dieses Kupfers mit Zinn war Bronze entstanden, ein besser zu formendes und härteres Material als das bisher gebräuchliche Eisen. Später gelangte König Salomo in den Besitz dieser Minen, deren Ausbeutung einen Teil seines Reichtums begründete.
In der Umgebung von Timna hatte sich die Natur als Bildhauerin betätigt. Wind und Regen, Erosion und Zeit. hatten hochhaushohe Pilze, gewaltige Säulen („Salomos Pillars“), abgefräste Buckel und Zacken aller Art geformt, eine Freiluftausstellung der Natur, gerade so, als hätte der Schöpfer in der Wüste von Timna eine verspielte Stunde gehabt.
Ich hatte Glück und konnte mich einer italienischen Familie anschließen, die mit einem Jeep den etwa 60 qkm großen Timna-Park durchfuhr. Wolken wie weiße Wattebäuche zogen über den Himmel und verwandelten den Himmel in ein Panoramagemälde aus Weite und Licht.
Stopp an einer nachgemachten Goldgräbersiedlung an der Straße zwischen Taba und Eilat. Ein Bilderbuchfake, wie man es stilechter auch in Arizona oder Dakota nicht finden könnte. Viel Freude bei den Touristen, die jubelnd ihre Specknacken in die öffentliche Galgenschlinge legten. Am Ende der Straße warteten die Beduinen und hievten die Besucher für einen Ritt durch die Westernstadt auf eines ihrer Kamele. Zur Freude der Touristen wurde einem Kamel ein mit Gas gefüllter Ballon ins Maul gestopft. Das Tier verschlang den Ballon und musste erleben, wie der unverdauliche Gummiballon ihm immer wieder hochkam. Was für ein Spaß.
Unterwasserobservatorium in Eilat. Eine Treppe führte zu einem unterirdischen Raum, nur erleuchtet durch ein grandioses Korallenriff, das hinter Glas in allen Farben der Meere prangte. Haie und Rochen zogen ihre Kreise. Im aquanautischen Museum wurde in fünfzehn hell erleuchteten Bassins die Lebenswelt von Langusten, Krabben, Kraken und grellbunter Fische präsentiert. Ich kannte die Namen zahlreicher altmexikanischer Götter, aber nicht einen einzigen Namen jener Meereswesen, die ich an diesem Tag hinter betrachtete. Schande über mich. Einige Namen schrieb ich mir auf, vergaß sie aber bald wieder.
Ausflug zu den Koralleninseln im Golf von Aqaba. Ein rüstiges altes Segelschiff dümpelte mit zwei Dutzend Passagieren nach Süden, bis wir in der Nähe der ägyptisch-israelischen Grenze die Reste einer Kreuzfahrerfestung erreichten. Ursprünglich als Sprungbrett für eine Eroberung Ägyptens von den Christen befestigt, fiel die Burg schnell in muslimische Hand. In der langen Nacht der osmanischen Herrschaft war die Burg funktionslos geworden und verfiel - immerhin auf so malerische Weise, dass sie heute noch als Fotomotiv herhalten kann. Unterhalb der Kreuzfahrerfestung stoppte das Schiff und die Besatzung servierte das vorbestellte Barbecue: Lamm, Reis, und Hähnchen, dazu Bier und Wein nach Belieben. Die Schatten der Uferberge hatten die Burg fast erreicht, kein Wölkchen war am Himmel zu sehen.
Ich wollte mich nach dem Essen gerade auf einer der Matten ausstrecken, als ich Professor Scheuch aus Köln erkannte. Vor 25 Jahren war er mein Held gewesen, als er sich in den Hörsälen der Kölner Universität Kommunisten und Anarchisten entgegengestellt hatte. Nun saß er klein und unscheinbar mit gebeugtem Rücken seiner Frau gegenüber, einer Mitvierzigerin, von der ich noch wusste, dass sie sich in jenen 68er Kampfzeiten vom tapferen Scheuch hatte freien lassen. Um sie herum wuselte ein schlecht erzogener launiger Bengel, das unruhige Kind einer späten Liebe.
Ich hatte bei Professor Scheuch mein Rigorosum im Nebenfach abgelegt und überlegte, ob ich ihn ansprechen sollte. Ich ließ es. So verschrumpelt wie er mir erschien, so befremdlich würde mein Backpackeroutfit auf ihn wirken.
Einmal