Ludwig Witzani

Von Jerusalem nach Marrakesch


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gleicht nicht nur einem Sieb, durch das alles nur hindurchgeht, sondern es ist auch so robust wie die Borsten einer Sau, so dass die Erinnerung an das Unaussprechliche auf lange Sicht auf sinnliche Anker angewiesen ist.

      Im Park des Holy Land-Hotels konnten die Besucher eine Attraktion der besonderen Art besichtigen: ein im Miniaturmaßstab wiederaufgebautes Jerusalem, mit anderen Worten: eine komplett rekonstruierte antike Großstadt wie ich sie noch nie anschaulicher gesehen hatte. Erst im Angesicht dieser fußballfeldgroßen Miniaturstadt begriff ich, wie sehr Jerusalem nicht nur ein überzeitliches Phänomen sondern auch ein urbaner Organismus gewesen war, der sich im Laufe der Jahrtausende verändert hatte. Was man im Park des Holy Land Hotels sah, war nicht das Jerusalem Salomos oder Davids, sondern das Jerusalem der Zeitenwende, war eine jüdisch-syrische-hellenistische Stadt, in der Jesus predigte, gefangengenommen und hingerichtet worden war. Klein und sich wie eine Schlange den Zions Berg hinaufwindend, erkannte ich die Davidstadt, die Keimzelle Jerusalems. Nördlich davon, ein echter Blickfang innerhalb der Rekonstruktion, befand sich der Tempelberg, auf dem aber nicht der Tempel König Salomos, sondern der dritte Tempel stand, den König Herodes der Große ab 19 v. Christus hatte erbauen lassen und der schon bald nach seiner Fertigstellung von den Römern zerstört werden sollte. Oberhalb der Stadtmauer waren die drei herodianischen Türme platziert, der Luppikus, der Phasael und der Mariamne, die mit über 45m Höhe zu den höchsten Türmen des Orients zählten. Rechts daneben erstreckte sich der Palast des Herodes im Schatten der Stadtmauer. In der Oberstadt befanden sich die Bauten der Reichen und Arrivierten, unter anderem der Palast des Hohepriesters Kaiphas und Davids Grab auf dem damals noch von einer Mauer umschlossenen Berg Zion. Ein Gymnasium, eine Agora und eine Rennbahn repräsentierten die hellenistischen Bauelemente der Stadt. Hoch über der Stadt und gleich neben dem Tempelberg beherrschte die römische Antoniafestung die Stadt. Der Hügel von Golgatha, der Ort der Kreuzigung, befand sich zur Zeitenwende noch außerhalb der Stadtmauern.

      Seit Beginn der Reise schleppte ich drei Kilo Kosmetik mit mir herum, die mir Alberto, einer meiner Kölner Freunde, für seine Ex-Partnerin Zahala mitgegeben hatte. Endlich kam ich dazu, sie anzurufen, um mit ihr einen Übergabetermin für die Kosmetik zu vereinbaren. Wir trafen uns in der Ben Yehuda Straße in der Jerusalemer Neustadt, keine schlechte Wahl, denn in dieser Straße war von der bedrückenden Gegenwart Israels nichts zu spüren. Ich erlebte eine Mischung zwischen Berlin und Mailand mit Straßenmusik, Cafés, öffentlichem Schmuckverkauf und jeder Menge kleiner Restaurants. Zahala kam mir mit ausgebreiteten Armen entgegen und umarmte mich, eine sympathische, etwas füllige Frau mit roten Haaren und einem runden Gesicht. Wie mir Alberto erzählt hatte, musste sie in ihrer gemeinsamen Kibbuz-Zeit ein richtiger Feger gewesen sein. Nun aber war sie eine gläubige Jüdin geworden, führte mich in ein koscheres Restaurant und erklärte mir den Sinn des koscheren Essens. Die Nichtvermischung von Milch und Fleisch, so Zahala, gehöre zum Niveau menschlicher Humanität, weil es barbarisch sei, das Fleisch der Kuh in ihrer eigenen Milch zu genießen. Es ist doch nie die gleiche Kuh, deren Fleisch und Milch wir verspeisen, dachte ich, behielt diesen Einwand aber als zu sophistisch für mich. Stattdessen fragte ich, ob man das koschere Essen mit der Abneigung gegen Pferdegulasch vergleichen könne, denn für mich gehöre es auch zum Niveau menschlicher Humanität, kein Pferd zu verspeisen. Und wie verhielte es sich mit den Chinesen, die für sich in Anspruch nähmen, die älteste Hochkultur der Welt zu vertreten, die aber zugleich alles verputzten, was ihnen auf den Teller kam? Diese Nachfragen stießen bei Zahala auf wenig Gegenliebe. Wie es sich mit dem Pferdegulasch und den Chinesen verhielte, wisse sie nicht, sagte sie, aber das koschere Essen gehe auf göttliche Offenbarung zurück, wovon beim Pferdegulasch ja wohl nicht die Rede sein könne. Als sie das Fünfte Buch Mose zitierte: „Du sollst das Zicklein nicht in der Milch seiner Mutter kochen“ musste ich passen, denn an Kenntnis des Alten Testamentes konnte ich es mit Zahala nicht aufnehmen. So lenkte ich das Gespräch auf Alberto, über dessen israelische Lebensetappe ich gerne mehr erfahren hätte. Alberto war zusammen mit seiner Familie aus dem Rumänien des Diktators Ceausescu nach Israel ausgewandert, wo er mit Bruder und Schwester eine Zeitlang im Kibbuz gelebt hatte, ehe die ganze Familie nach Deutschland ausgewandert war. So hatten sich viele moderne Juden verhalten: Vor die Wahl gestellt, ein hartes Leben im Land ihrer Urväter zu führen oder ein bequemes im Land ihrer Mörder, entschieden sie sich für das zweite. Aber wer war ich, darüber zu richten? Viel witziger waren die Geschichten, die Zahala über Albertos Militärdienst zu berichten wusste. Einmal, als Alberto mit seiner Einheit auf dem Sinai stationiert war, hatte er sich in seiner Freizeit hinter eine Düne zurückgezogen und sich unter Vorlage einer Playboy-Ausgabe einen heruntergeholt. Leider wurde diese Aktion von der amerikanischen Satellitenaufklärung aufgezeichnet und dem Kommandeur des Bataillons übermittelt. „Wie kannst du unsere große Armee nur so blamieren?“ hatte der Kommandeur gebrüllt und Alberto zum Strafdienst in der Latrine eingeteilt. Das war lange her, und ich konnte ihr meinerseits berichten, wie gut sich Alberto und seine Familie in Deutschland eingelebt hatten. Nein, eine feste Beziehung habe er immer noch nicht, erzählte ich, und Zahala nickte mit wissender Miene.

      Am letzten Tag meines Aufenthaltes in Jerusalem erkletterte ich den Ölberg, um mir das Gesamtpanorama der Stadt anzusehen. Im Vergleich zur Miniaturausgabe der antiken Stadt im Garten des Holyland-Hotels fehlte im Süden die Davidstadt und der umwallte Zionsberg. An der Stelle des großen Tempels erkannte ich vom Ölberg aus die Umrisse des Felsendoms, den Stolz der Moslems und den ewigen Kummer der frommen Juden. Längst hatte sich die Stadt über die alte Stadtmauer hinaus in den hügeligen Norden ausgebreitet. Es war nicht nur eine heilige Stadt, die ich erblickte sondern auch eine Großstadt mit 800.000 Einwohnern, deren Lärm bis in die Höhen des Ölberges hinaufschallte.

      Als ich durch die Umgebung des Ölbergs spazierte, kamen mir drei moslemische Knaben entgegen. Einer der drei, ein schlaksiger Kerl mit einer Frisur wie ein iranisches Schaf, trat ohne Vorwarnung gegen meine Fototasche. Als ich mich ihm zuwendete, hauten die beiden anderen ab, doch der Angreifer nahm eine groteske Kampfstellung ein, etwa so, wie er sie in Kung Fu Filmen gesehen haben mochte. Er hatte eine lange Nase, große Henkeltopfohren und fast keine Stirn. Seine Augenwülste standen vor, ebenso sein Mund, mit dem er ausspuckte und rief: „Go home, go home“. Als ich mit dem Fuß aufstampfte, als wolle ich ihn angreifen, lief er davon.

Titel

      Hass am Grab des Patriarchen

      In Bethlehem und Hebron

      Neben der Verkündigungskirche in Nazareth, der Grabeskirche in Jerusalem und der Auferstehungskirche am See Genezareth war die Geburtskirche in Bethlehem die vierte große Pilgerkirche der Christenheit. Von außen unscheinbar, beeindruckte sie im Innern: eine dreischiffige byzantinische Basilika mit 44 Marmorsäulen und einem Mosaikfußboden, der durch eine Holzvorrichtung vor Abnutzung geschützt wurde. Eine einzige Verhunzung dagegen war das griechisch-orthodoxe Gemisch aus Lämpchen, angeschmuddelten Goldplättchen, dunkelrot lackierten Holzikonen und zweitklassigen Gemälden. In den diversen Vertiefungen der Geburtsgrotte unter der Geburtskirche hatten sich die verschiedenen christlichen Kirchen flächendeckend mit ihren Symbolen ausgebreitet: Überall Kerzen, Sterne, nachlässig ausgeführte Statuen - und als wäre alles nicht schon schlimm genug, lag auch noch ein Püppchen mit Goldlöckchen in einer Krippe. Eine Gruppe älterer Frauen kroch unter das Marienstandbild, um einen kopfgroßen silbernen Stern zu küssen, was so angestrengt aussah, dass ich fürchtete, die alten Damen würden unter der Marienstaue vor Erschöpfung zusammenbrechen.

      Auf dem Markt in Bethlehem gab es kaum ein Durchkommen. Ich passierte Stände voller Blumenkohl, Orangen und Melonen, an Fleischerhaken hingen die von Fliegen umschwärmten Rindfleischstücke, Verkäufer brüllten, Kinder kreischten, verschleierte Frauen bahnten sich robust mit den Ellbogen ihren Weg durchs Gedränge. Es sah aus wie Orient, es roch wie Orient, und es war Orient - nur die meisten Orientalen auf dem Markt in Bethlehem wie auch in der ganzen Stadt waren Christen. Arabische Christen haben für einen Besucher aus dem Westen etwas ebenso Kurioses wie israelische Moslems, obwohl es von den ersten viel mehr gibt als von den zweiten. Eingeklemmt als Minderheit zwischen Moslems und Juden hatten es die palästinensischen Christen nicht einfach: so viel Hass gegen Israel konnten sie öffentlich gar nicht zeigen, um den Missionsdruck