Ludwig Witzani

Von Jerusalem nach Marrakesch


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See Genezareth erreichte ich eines der Ursprungsgebiete des christlichen Glaubens. Hier hatte Jesus in Kapernaum seine ersten Jünger gewonnen: Petrus, Andreas und Jakobus. Hier vollbrachte er seine ersten Wunder: er heilte den Besessenen, die Schwiegermutter des Petrus, das todkranke Kind und den Mann mit der verdorrten Hand. In der Synagoge von Kapernaum hielt Jesus seine erste programmatische Rede („Ich bin das Brot der Welt“), von Kapernaum aus ruderte Jesus zum Ostufer des Sees, wo schon fünftausend Menschen warteten, die er mit Brot und Fisch versorgte. Das christliche Wunder im Dienste des Catering.

      Am Nordufer des Sees besuchte ich die Auferstehungskirche, an deren Altar Jesus nach seiner Auferstehung mit seinen Jüngern gespeist haben soll. Hinter der Auferstehungskirche, gleich in der Nähe des Ufers befand sich eine Skulpturengruppe, die den segnenden Jesus zeigte, wie er dem Fischer Petrus seine Kirche übertrug. Weide meine Schafe. Über Taghba, den Berg der Seligpreisungen, ging die Sonne auf, als ich zum Franziskanerhospiz spazierte. Hier las ich auf den acht Kolonnaden die acht Seligpreisungen nach Matthäus.

       „Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. Selig, die keine Gewalt anwenden denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Himmelreich.“

      Nazareth, die Geburtsstadt Jesu, erreichte ich im strömenden Regen. Über der Grotte, in der der Erzengel Gabriel Maria die Geburt Jesu verkündet haben soll, erhob sich eine fast siebzig Meter hohe Kirche mit einer raketenartigen Spitze und einer über dreißig Meter langen Seitenfront. Um in die vermeintliche Grotte zu gelangen, musste man im Innern der Kirche auf eine etwas niedrigere Plattform herabsteigen, wo Geistliche der verschiedenen christlichen Konfessionen die Besucher mit Argusaugen beobachteten. Vor dem Eingang der Grotte stand ein blumengeschmückter Altar, flankiert von großen Kerzen und unablässig flackernd im Blitzlichtgewitter der Touristengruppen. Es waren Pilger, aus aller Welt, die in der Weihnachtszeit auf ihrer Reise in das Heilige Land die Verkündigungsgrotte besuchten - in manchen Gesichtern erblickte ich Skepsis, in manchen unbedingten Glauben, in vielen aber erkannte ich jene „Begierde der Augen“, von der Augustinus behauptet hatte, dass es die Gier sei, alles zu sehen, ohne wirklich zu verstehen. Hätte ich einen Spiegel zur Hand gehabt, hätte ich mich möglicherweise selbst erkannt.

Titel

      „Buy one Jesus

      and get one Paulus for free“

      Tage in Jerusalem

      Dann flogen die Steine. Zu spät merkte ich, dass es ein Fehler gewesen war, mit der staatlichen israelischen Busgesellschaft Egged auf dem kürzesten Weg nach Jerusalem zu fahren. Denn dieser Weg führte durch das arabische Westjordanland. In der Nähe der Stadt Nablus wurden aus einer Menge von Halbwüchsigen heraus Steine gegen den Bus geschleudert. Rückscheinwerfer und Fenster klirrten. Hasserfüllte Blicke, Fäusteschütteln gegen den israelischen Bus. Zwischen Nablus und Ramallah nahm die israelische Militärpräsenz an allen größeren Kreuzungen zu. Der Busfahrer beklagte sich bei den Soldaten über die Steinwerfer aus Nablus. Die Soldaten hörten ihm mit resignierten Gesichtern zu. Was sollten sie auch tun? Hinter Ramallah wurden wir umgeleitet. Wieder mussten wir warten, weil brennende Reifen den Weg versperrten.

      Kurz vor Jerusalem begann es heftig zu schneien, und ein eiskalter Wind fegte über die Berge. Nässe, Kälte, Dunkelheit auf dem Busbahnhof in einem Vorort von Jerusalem. Nichts zu sehen außer Schneematsch, grauen Häuserfassaden und Passanten, die mit hochgeschlagenen Mantelkragen davoneilten. Ich war noch unschlüssig, wohin ich mich wenden sollte, als plötzlich ein junger Mann vor mir stand, der mit Nachdruck eine Unterkunft in der Neustadt von Jerusalem samt Frühstück anpries. Er selbst hatte an diesem Tag wohl noch kein Frühstück erhalten, denn er sah abgezehrt und heruntergekommen aus. Doch er wies mir den Weg zu einem warmen Bett, nach dem mich jetzt mehr als alles andere verlangte, und so folgte ich ihm.

      Nach einem kilometerlangen Fußmarsch, bei dem mir fast die Füße abfroren, erreichten wir ein Wohnhaus in einer abgelegenen Straße und klingelten an einer Wohnungstüre im zweiten Stock. Alle Zimmer dieser Wohnung, selbst die Flure, waren mit Doppelbetten zugestellt, in denen Gäste aus aller Herren Länder frierend unter dünnen Decken lagen. Eine verhärmte mittelalte Frau verlangte meinen Pass und sofortige Vorkasse, für die sie mir eine dünne Decke und das Ticket für das Frühstück am nächsten Morgen überreichte. Ihr Gehabe war unfreundlich und herrisch, gierig schaute sie auf meine Geldbörse, als ich die Scheine herausholte. Nach längerem Suchen fand ich in einem stockdunklen Zimmer im hinteren Wohnungsteil ein leeres Bett. Die Laken waren zerwühlt und unsauber, doch es war so bitterkalt, dass ich voll angezogen sofort unter die Decke kroch. Ich verknotete die Schlaufe meiner Kamera mit meinem Gürtel und die Trägerriemen meines Rucksacks mit den Bettpfosten. Leider war an Schlafen nicht zu denken, denn ich lag Kopf an Kopf mit einem älteren Mann, der die gesamte Tonleiter herauf- und herunterschnarchte, zuerst röchelnd, dann fiepend und gurgelnd, immer höher in der Tonlage, als schlösse sich seine Luftröhre, bis er schließlich in einem wilden Schnaufen aufwachte und nach Luft schnappte – um kurz darauf wieder von vorne anzufangen. Als ich dann doch einschlief, versank ich in wirren Träumen, aus denen ich herausgerissen wurde, als mir jemand meine Decke wegziehen wollte. Ich fuhr hoch und riss die Decke an mich, während der Deckendieb fluchend von dannen zog.

      Als ich am nächsten Morgen erwachte, erblickte ich im fahlen Licht der Morgendämmerung einen Raum mit sechs Doppelbetten, die alle belegt waren. Krausköpfe, Blondschöpfe, Glatzköpfe und Käppiträger ragten über den Rand der Decken, ein Afrikaner war bereits wach und blickte mich glasig an, denn er hatte sich gerade einen Joint reingezogen. Auch der Röchler im Nachbarbett war aufgewacht und hustete sich derart aus, dass der Schleim durch die Gegend flog. Seine Bronchitis habe er sich geholt, als er „mangels Kohle“ 14 Tage lang am Strand von Haifa habe schlafen müssen, erzählte er. Dann hätten ihn die Israelis aufgegriffen und ihn in eine eiskalte Gefängniszelle gesteckt, was ihm den Rest gegeben hätte.

      Als ich aufstand und durch die Wohnung lief, zählte ich etwa vierzig bis fünfzig Menschen, für die gerade mal ein Bad und eine Toilette zur Verfügung standen. In der Küche warteten die ersten Traveller, um unter der Aufsicht eines jungen Israeli einen dünnen Tee entgegenzunehmen. Ihre Gesichter waren von Kälte und Erschöpfung gezeichnet, sie waren ins Heilige Land gekommen und in einer Vorhölle gelandet, in der es natürlich auch das versprochene Frühstück nicht gab. Was von dem jungen Israeli zu erhalten war, war eine Scheibe Weißbrot mit einem sparsamen Schlag Marmelade. Wer mehr wollte, musste zahlen. Ich trank den Tee, ergriff meinen Rucksack und verließ die Wohnung. Erst im Bus bemerkte ich, dass mir meine Israelkarte, die locker in der Außentasche des Rucksacks gesteckt hatte, gestohlen worden war.

      Schon das erste Zimmer, das ich mir in der Altstadt von Jerusalem ansah, gefiel mir so gut, dass ich es gleich für mehrere Nächte im Voraus bezahlte. Es hatte zwar auch keine Heizung, aber ein geräumiges Bett mit drei warmen Decken, eine Nachttischlampe, Tisch und Stuhl und ein kleines Bad, in dem ich mich erst einmal gründlich wusch. Von meinem Fenster aus konnte ich am Ende einer Gasse das Jaffator sehen, gegenüber befanden sich eine öffentliche Garküche, daneben eine Schneiderei und eine Teestube. Die Vermieter meines Zimmers waren zwei arabische Brüder, die mir sofort nach der Anmietung einen Tschai mit Keksen ins Zimmer brachten. In dieser Nacht war es genauso kalt wie in den Nächten vorher, doch ich schlief unter den warmen Decken tief und fest.

      Am nächsten Morgen fiel noch mehr Schnee in Jerusalem, und ich sah, wie die Araber dick vermummt durch die Straßen liefen. Zu meiner Überraschung brachten mir meine Vermieter einen kleinen Heizstrahler ins Zimmer, der aber nur eine halbe Stunde arbeitete, ehe der Strom ausfiel. Ich zog mich so warm an wie möglich, schlang mir meinen dicksten Schal gleich mehrfach um den Hals und begann meinen ersten Rundgang durch die Heilige Stadt. Viel zu sehen gab es nicht, denn die