Ludwig Witzani

Von Jerusalem nach Marrakesch


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erste Wort, das die kleinen Marokkaner lernen, heißt nicht „Mama“ oder „Papa“, sondern „Dirham.“ Könnten Hunde und Katzen in Marokko sprechen, würden sie das gleiche fordern. Ungefragt tauchte ein Halbwüchsiger aus einer Seitengasse auf, schob sich zwischen Wolfgang und mich und sagte auf Französisch: „Straße, schönes Foto, drei Dirham!“ Unwillkürlich ergänzte ich: „Atmen nicht vergessen, ein Dirham“.

      An den Ausfallstraßen standen hundertmeterweise gestaffelt die Kinder und hielten den vorbeifahrenden Reisenden Grasbüschel und Blumen entgegen. Zur Ökonomie der Armut gehörte auch das sinnlose Angebot. Ziegen wurden von unbarmherzigen Hirten auf die Bäume gescheucht, damit sich ein vorbeifahrender Tourist daran erfreue. Kamele warteten am Rande der Straße, um ängstliche Touristen auf ihrem Rücken dem Himmel ein Stück näher zu bringen – und seinen Geldbeutel zu erleichtern.

      Auf dem Weg nach Rabat bogen wir von der Straße ab, um ein Schlachtfeld zu besuchen. Ksar el Kebir, der Ort, an dem das goldene Jahrhundert Portugals endete. Der junge portugiesische König Sebastian hatte im Jahre 1578 in grotesker Selbstüberschätzung zur Eroberung Marokkos angesetzt. Danach wollte er über Ägypten zum heiligen Grab vorstoßen und als ein neuer Alexander nach Europa zurückkehren. So groß der Traum, so tief der Fall. Kurz nach der Landung in Marokko wurde die portugiesische Armee mitsamt König und Adel vernichtet. Der junge Monarch endete unerkannt in einem Massengrab. Zwei Jahre später fiel die portugiesische Krone an den spanischen König Philipp II. Der größte Teil des portugiesischen Kolonialreiches ging an die Holländer verloren. Nichts erinnerte an diese Schlacht in Ksar el Kebir. Eine Provinzstadt ohne Flair. Ein Ereignis, wie weggewischt aus der Geschichte. Wir kauften ein Netz Orangen und fuhren weiter.

      Dann wieder große Städte. Agglomerationen aus Stein am Rande des Ozeans, so müssen Rabat und Casablanca vom Weltraum aus wirken. In der Landeshauptstadt Rabat besuchten wir das Grabmal Mohammeds V, jenes Königs, der das Land 1956 in die Unabhängigkeit von Frankreich führte. Ein schmaler Sarg in einer angedeuteten Krypta. Alles in rostrot-grün gehalten. An Gold und Edelsteinen war nicht gespart worden. Vor dem Mausoleum Mohammeds V erinnerte eine unvollendete Moschee an die großen Tage der marokkanischen Geschichte. Hier war der Almohadensultan Yacub al Mansour, der Schrecken der Reconquista, am Werk gewesen. Die Moschee wäre mit ihrem geplanten Grundriss von 175 mal 128 Metern noch größer gewesen als die Mezquita von Cordoba. Geblieben waren Säulengalerien ohne Dach, dazu der unvollendete Hassanturm, ein prachtvolles maghrebinisches Vierkantminarett, das mit seinen achtzig Metern Höhe selbst die Kutubiya von Marrakesch übertroffen hätte.

      Casablanca, die größte Stadt Marokkos, besaß drei Millionen Einwohner. Das war ein knappes Zehntel der Bevölkerung, das immerhin drei Viertel des Nationalproduktes erwirtschaftete. Eine Stadt ohne Geschichte, aus dem Nichts entstanden und so schnell gewachsen, dass keine Zeit geblieben war, einen urbanen Charakter zu entwickeln. Um dem abzuhelfen hatte König Hassan II verfügt, in Casablanca das höchste Minarett der Welt zu errichten. Nun stand es neben der Moschee und ragte mit 210 Metern in die Höhe. Benannt war die Moschee nach dem König, bezahlt für das Gebäude hatte das Volk.

      Wir überlegten, ob wir nach Casablanca hineinfahren sollten. Doch die Menschenmassen an den Stadträndern schreckten uns ab. Die Bidonvilles, die Slums von Casablanca, erstreckten sich bis an die Umgehungsstraße. Bilder schrecklicher Verwahrlosung im Vorbeifahren. Menschen, denen die Kleidung in Fetzen vom Leib hing, langhingestreckte Gestalten am Wegesrand, Häuserzeilen, die aussahen wie nach einem Artilleriebeschuss. Casablanca war zum Meer hin orientiert und zeigte den Vorbeifahrenden nur seinen hässlichen Hintern.

      Dann Szenenwechsel. Weiter Himmel, leeres Land, endloser Ozean. Viel grün, eine fast mitteleuropäische Vegetation, die anzeigte, dass hier reichlich Regen fiel. Und tatsächlich zogen die Wolken in dieser Osterwoche in dicken, schweren Klumpen über den Himmel. Ganz klar war es bisher nur in den kalten Nächten gewesen.

      In El Jadida absolvierten wir unsere erste längere Rast. Ein langer weißsandiger Strand, ein gut ausgerüsteter Campingplatz gleich in der Nähe der alten Portugiesenfestung. Vor gut fünfhundert Jahren war hier Bartholomeo Diaz mit seinen Schiffen in Richtung Indien vorübergefahren. Die Zisterne von El Jadida war eine unterirdische, quadratische Halle von gut dreißig mal dreißig Meter Durchmesser. Fünf stämmige Säulen, in deren Mitte sich das Licht der oberen Öffnung im Wasser spiegelte. Zuflucht der Frauen und Kinder, wenn Eroberer draußen vor den Toren standen.

      In Azemour lief eine dicke Frau ihrem Mann hinterher und warf mit Steinen nach ihm. Er war gekleidet wie ein Franzose und ging mit durchgedrücktem Kreuz unbeeindruckt vorneweg. Sie, in einen unförmigen weißen Kaftan bis zum Boden eingehüllt, humpelte ihm kreischend hinterher. Der Protest der Tradition gegen die Moderne.

      Die Vegetation zwischen El Jadida und Essaouira erblüht im Frühjahr zu kurzem Leben. Neben den Wadis sprossen die Feldblumen. Ausgedörrte Felsen bedeckten sich mit Flechten, die Kronen der Palmen erhoben sich wie Fächer über dem erwachenden Land. Wie steinerne Wellen senkten sich die Hügel zum Meer hinab, immer neue Buchten säumten die endlose Straße nach Süden. Nun war kein Mensch mehr zu sehen. War Afrika endlich erreicht?

      Die Altstadt von Essaouira lag auf einer Halbinsel, die völlig vom Meer umschlossen war. Eine ganze Galerie stattlicher Kanonen zielte von der Uferpromenade auf feindliche Flotten, die hier nicht mehr landeten. Die Portugiesen, die in ihren Glanzzeiten Essaouira beherrscht hatten, waren längst verschwunden. Winzige Gassen führten durch die Altstadt. Oft waren die Gebäude in der Höhe der ersten Etage über die Straßen hinweg miteinander verbunden, so dass wir durch schattige Tunnel liefen. Völlig verhangene Frauen huschten vorüber. Kleine Mädchen liefen uns hinterher und sangen ein Lied. Bald würde man ihnen einen Schleier über ihre schönen Haare stülpen.

      Vor der Küste Essaouiras lag die Insel Mogador, die schon den Phöniziern bekannt gewesen war. Hier hatten sie die Purpurschnecken gesammelt, aus denen sie den Farbstoff für die in der Antike so begehrten roten Gewänder gewannen. Zweitausend Jahre später hatte es einen schottischen Seemann auf die Insel verschlagen. Sein Name war MacDonald gewesen, er war zum Islam übergetreten und hatte es immerhin bis zum Marabut Sidi Mogdul und zum Namensgeber der Insel gebracht.

      Unter einem Marabut (oder Marabout) versteht man eine Person, die durch ihren gottgefälligen Lebenswandel Bewunderung und Aufsehen erregt. Nach ihrem Tod pilgerte man zum Grab des Marabut, meist einem kleinen Mausoleum mit einer weißen Kuppel, um ihm seine Verehrung zu erweisen. Waren die Marabut auch „Sherifen“, das heißt, mit dem Propheten Mohammed verwandt, gehörten sie zur allerobersten Schicht der marokkanischen Bevölkerung. Die Vorfahren der gegenwärtigen Herrscherdynastie der Alawiten hatten ihren politischen Aufstieg als Marabuts im Tafilalet im Südosten Marokkos begonnen. Selbstverständlich waren sie auch mit dem Propheten Mohammed verwandt.

      Hinter Essaouira zogen sich die Dünen die Küste entlang. Nur wenige Individualisten fanden den Weg hierher – und wurden durch Weite und Raum belohnt. Solche unendlich langen und sacht abfallenden Weißsandstrände hatte ich in ganz Afrika noch nicht gesehen. Die Temperaturen waren moderat, vom Ozean her wehte eine frische Brise über das Land. So stoppten wir an einem Campingplatz in unmittelbarer Nachbarschaft des Strandes. Der Campingplatz war komplett von Stacheldraht umgeben. Hinter dem Stacheldraht standen Männer mit Gewehren und beobachteten die Umgebung. Nur vier Wohnwagen standen in großen Abständen auf dem schattenlosen Gelände. Es gab ein flaches Haus mit sanitären Anlagen, und einem viereckiges Büro, in dem sich die Verwaltung befand. Dort erfuhren wir, dass niemand ohne Passkontrolle den Platz betreten durfte. Jedem Tourist, der den Platz für einen Ausflug verließ, wurde dringend angeraten, sich abzumelden und anzugeben, wann er voraussichtlich wieder zurückkäme.

      „Sollen wir hier wirklich bleiben?“ fragte Wolfgang.

      „Ich blickte zum Strand. Glutrot versank die Sonne im Ozean. Ein kitschig schönes Bild ohne einen einzigen Menschen am Strand.

      „Wird schon nicht so schlimm werden“, meinte ich. „Ein Strandtag wird uns guttun.“

      Der Strandtag tat uns aber alles andere als gut. Der Sand war so weich und fein wie er aussah, das Wasser erfrischend, der Wind kühlend, doch wir fanden keine Ruhe. Immer neue Gestalten tauchten aus der Ferne