Klaus Liebers

In der Schule von Athen


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maßgeblich das wissenschaftliche, religiöse und politische Leben der meisten Städte in Unteritalien. Sicher hörte Platon viele Legenden über Pythagoras. Allein verbürgte historische Zeugnisse fehlten schon damals, denn Pythagoras hat nichts Schriftliches hinterlassen.

      Die Mitglieder des Bundes waren in zahlreichen öffentlichen Ämtern tätig. Auf diese Weise gewannen die Pythagoreer einen immer größeren politischen Einfluss auf die Gesetzgebung und die Verwaltung vieler süditalienischer Städte. Sie gestalteten das Leben im Sinne einer streng aristokratischen Ordnung. Die Sittenlehre der Pythagoreer kannte nichts Höheres als die Unterordnung des Einzelnen unter das Ganze. Ohne Obrigkeit – so glaubten sie – könnte das Menschengeschlecht nicht bestehen. Die wissenschaftlichen Forschungen der Pythagoreer rankten sich um Fragen nach der Ordnung und dem Aufbau der Welt.

      Um 490 v.Chr. entstand in Kroton erstmals eine stärkere Bewegung gegen den Einfluss der Pythagoreer. Weitere Aufstände folgten, einige mündeten in grausame Verfolgungen der Pythagoreer. In Syrakus prüfte Dionysios I., wie weit es her sei mit der gerühmten Verbundenheit der Pythagoreer im Angesicht des Todes. Erinnern Sie sich noch an Ihre Schulzeit? Diese Prüfung gab den Hintergrund für Schillers Ballade „Die Bürgschaft“:

      „Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich

      Möros, den Dolch im Gewande;

      Ihn schlugen die Häscher in Bande.

      „Was wolltest du mit dem Dolche, sprich!“

      Entgegnet ihm finster der Wüterich.

      „Die Stadt vom Tyrannen befreien!“

      „Das sollst du am Kreuze bereuen.“

      ...

      Nur in Tarent gelangten die Pythagoreer mit Archytas ein letztes Mal zu großer Blüte. Dem inzwischen schon fast 40-jährigen Platon widerfuhr der Glücksfall, die Gastfreundschaft dieses bedeutenden Mannes zu gewinnen, ohne dass es zu einer echten Freundschaft gekommen wäre. Archytas war es, der Platon in das Leben und in die Lehren der Pythagoreer einführte.

      Schmuggeln wir uns als stumme Zuhörer in eines ihrer Gespräche über die Lehren der Pythagoreer ein.

      Der Geheimschlüssel der Harmonien

      „Lieber Platon, in den letzten Wochen kreisten unsere Gespräche immer wieder um die unsterbliche Seele. Ich sprach davon, wie die Seele aus einer Art Lebewesen in eine andere Art übergeht, weshalb wir Pythagoreer keine Tiere töten und deren Fleisch nicht essen. Lange verweilten wir bei der Frage: Wie kann die Seele innerhalb dieser Seelenwanderung gereinigt werden? Einig waren wir uns, dass die Seele aus drei Teilen besteht. Diese haben ihren Sitz in verschiedenen Regionen des Körpers: die Vernunft im Kopf, der Mut in der Brust und das Begehren im Bauch.“

      Platon nickte zustimmend.

      „Heute möchte ich dich zu einem neuen Thema führen: Wie kann die Seele zu Gott finden?“

      Archytas begann – wie konnte es anders sein – bei Pythagoras. Der geradeste Weg zur Gottheit sei die intellektuelle Tätigkeit, weshalb Pythagoras allen Schülern das Studium der Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik auferlegte.

      „Das ist es wohl, lieber Archytas, was ich schon hörte: Für euch Pythagoreer steht die Beschäftigung mit der Mathematik im Range einer religiösen Handlung.“

      Archytas erinnerte an die geflügelten Worte „des Meisters“, wie sie „ihren“ Pythagoras nannten:

      „Der Geist sollte und könnte sich läutern durch die Orgien der Mathematik. Das bedeutet: Die Mathematik kann die Seele heilen. Im Mittelpunkt unserer mathematischen Studien stand daher immer die Suche nach der schönen, harmonischen Ordnung der Welt.“

      Den Mitgliedern des Bundes war es streng verboten, Fremden ihre bedeutendsten Erkenntnisse zu verraten. Im Verlauf der vielen Jahre ihres Zusammenseins erlag Archytas dennoch der Versuchung, seinen Gast in die innersten Geheimnisse ihres Bundes einzuweihen. So erfuhr Platon den Geheimschlüssel der musikalischen Harmonien:

      „Die Töne einer Leier erklingen in einer Harmonie, wenn sich die Saitenlängen wie kleine ganze Zahlen zueinander verhalten. Befinden sich die Saitenlängen im Verhältnis 1:2 jubilieren sie in einer Oktave. Schwingen die Saiten im Verhältnis 2:3 – lassen sie eine Quinte erklingen. Eine Quarte ertönt bei einem Verhältnis von 3:4.“

      Aus diesen musikalischen Harmonien erschlossen die Pythagoreer ein weiteres Mysterium:

      „Die Harmonien der Musik stehen mit den ersten vier kleinen ganzen Zahlen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Deshalb begannen die Pythagoreer die Zahl ZEHN zu verehren. Die ZEHN ist die Summe der ersten vier Zahlen, in deren Verhältnissen die himmlischen Harmonien verborgen sind.“

      Auch in der Geometrie suchten die Pythagoreer nunmehr nach Harmonien und nach der Gestalt des Schönen. Harmonien fanden sie in der harmonischen Teilung einer Strecke:

      „Die harmonische Teilung einer Strecke erreichten wir Pythagoreer auf zweierlei Weise: in Gestalt der vollkommenen Proportion“ – diese Proportion haben Sie, liebe Leser, in der Schule als „Goldenen Schnitt“ kennengelernt – „sowie in Gestalt musikalischer Proportionen wie 1:2 oder 2:3 oder 3:4.“

      Das Verlangen nach Schönheit dominierte die Suche der Pythagoreer nach den schönsten Flächen und den schönsten Körpern:

      „Der Kreis ist die schönste Fläche – sie ist die einzige Fläche ohne Ecken und Beulen. Die nächstschönsten Flächen sind regelmäßige Vielecke. Die Kugel ist der schönste Körper – sie ist der einzige Körper ohne Ecken, Kanten oder Beulen. Die nächstschönsten Körper sind das Tetraeder, das Hexaeder, das Oktaeder und das Ikosaeder.“

      Lassen Sie uns an einer weiteren Unterhaltung der beiden Männer teilhaben. Archytas und Platon sprechen wieder einmal über die Harmonien in der Musik und in der Geometrie. Im Verlauf des Gesprächs kehrt Platon immer wieder auf ein und dieselbe Frage zurück:

      „Worin zeigen sich die Harmonien im Kosmos?“

      „Wenn du nach dem Schönen im Himmel suchst, musst du mehrere Fragen verfolgen: Welche Gestalt haben die Himmelskörper? Wie viele Himmelskörper gibt es? Wie bewegen sie sich? Welche himmlischen Harmonien erzeugen die Himmelskörper auf ihren Wegen? Wir Pythagoreer sind stolz darauf, die göttliche Harmonie des Kosmos als Ursache für die Gestalt, die Anzahl und die Bewegung der Planeten aufgedeckt zu haben.“

      „Und wie denkt ihr euch die Welt als Ganzes?“

      „Die Welt denken wir uns bis zur Vollkommenheit geordnet. Sterne und Planeten strahlen als ihr Schmuck. Nach dem Wort ‚Kosmos‘ für Ordnung und Schmuck nannten unsere frühen Mitglieder des Bundes das Weltall selbst ‚Kosmos‘. Sie hatten keine Beweise dafür, dennoch: Die Gestalt der Erde und aller anderen Himmelskörper konnten sie sich nur als äußerst vollkommene, makellose Körper vorstellen – und das waren allein Kugeln.“

      Platon war von dieser Idee einer makellosen Kugelgestalt der Erde und aller Himmelskörper begeistert, wie verzaubert. Für kurze Zeit fehlten ihm die Worte. So konnte Archytas frei von Zwischenfragen ausmalen, wie sich die Pythagoreer den Aufbau des Kosmos vorstellten:

      Zuerst hätte sich im Kern des Weltganzen das Feuer gebildet, nach seiner Lage nannten sie es Zentralfeuer. Aus der Verehrung der Zahl ZEHN schlussfolgerten sie weiter, dass zehn himmlische Körper das Zentralfeuer umkreisten. Diese waren von außen der Fixsternhimmel, diesem folgten die Planeten Saturn, Jupiter, Mars, Venus und Merkur, weiter innen beendeten Sonne, Mond und Erde den Reigen. Als die Pythagoreer die Anzahl der beobachtbaren Himmelskörper abzählten, waren sie irritiert, geschockt, ja verzweifelt – sie kamen nur bis neun. Aus dem Glauben an die vollkommene Harmonie des Weltgebäudes und aus dem Vertrauen in die Zahl ZEHN als Inbegriff der Harmonie ersannen die frühen Pythagoreer einen zehnten Himmelskörper und nannten diesen „Gegenerde“.

      Platon staunte, misstraute diesen Vorstellungen.

      „Habe ich richtig gehört: Zentralfeuer? Gegenerde? Da überkommen mich Zweifel! Was versteht ihr denn unter dem Zentralfeuer? Und dann: Wo sollen