„können die Planeten einschließlich der Sonne, aber auch die Fixsterne nicht ewig von selbst leuchten. Sie erhalten ihr Licht vom Zentralfeuer.“
„Wieso sind das Zentralfeuer und die Gegenerde dem menschlichen Antlitz verborgen?“
Auch dafür gebe es eine einleuchtende Antwort:
„Erde und Gegenerde bewegen sich so, dass sich das Zentralfeuer stets zwischen der Erde und der Gegenerde befindet. Zudem bewegt sich die Erde in einer solchen Weise um das Zentralfeuer, dass die Erde der Gegenerde und dem Zentralfeuer immer dieselbe Seite, nämlich ihre unbewohnte Seite zukehrt. Als Folge können die Strahlen des Zentralfeuers die Menschen auf der bewohnten Seite nicht unmittelbar erreichen – erst nach der Reflexion der Strahlen des Zentralfeuers an der Sonne gelangt das Licht zur Erde.“
Ungläubig wiegte Platon sein Haupt hin und her. Ein spöttisches Lächeln umspielte seinen Mund. Archytas erkannte: Es war ihm nicht gelungen, die Zweifel seines Gegenübers zu zerstreuen. Deshalb fügte er hinzu:
„Ich gebe ja zu: Das Ganze ist nicht ohne Tücken. Es gibt auch bei uns einige neuere Astronomen, die meinen, ein Zentralfeuer wäre überflüssig. Sie prüfen noch, ob es möglich wäre, die Erde in die Mitte der Welt zu setzen. Die neueren Ideen für die göttliche Harmonie des Kosmos gehen vor allem auf unseren Astronomen Philolaos von Kroton zurück, der erst vor wenigen Jahren gestorben ist.“
„Der Fixsternhimmel ganz außen“, begann Platon seinen Einwand, „dieser Fixsternhimmel, bildet dieser die Grenze des Kosmos? Und wenn die Fixsterne den Rand des Kosmos bilden: Was befindet sich dahinter?“
Archytas meinte: Da gingen die Standpunkte auseinander.
„Einige behaupten, dahinter sei endlos leerer Raum, andere beteuern, dahinter sei gar nichts, nicht mal ein leerer Raum. Noch andere meinen, dahinter gäbe es noch unzählige Welten, so wie es auch jenseits unserer Stadtmauern andere Städte gebe.“
Da von Platon keine Einwände kamen, setzte Archytas fort:
„Bleibt noch die Frage: Wie bewegen sich die Planeten?“ Die Antwort lautete:
„Für uns Pythagoreer ist es undenkbar, Planeten anzunehmen, die sich frei im Himmel bewegen. Die Planeten und die Fixsterne sind an durchsichtigen Hohlkugeln befestigt, die wir Sphären nennen. Die Sphären drehen sich um ihre Achsen und nehmen die Gestirne mit.“
„Dann müssten sich die Planeten gleichmäßig am Himmel bewegen – das tun sie jedoch nicht, wie alle Astronomen wissen.“
Diesen Einwand hatte Archytas schon erwartet und räumte ein:
„Hierauf wissen wir noch nicht die volle Antwort. Seit langem sind diese Unregelmäßigkeiten im Lauf der Planeten bekannt. Der Lauf einiger Planeten am Himmel gleicht mehr einer Schleifenbahn als einer Kreisbahn. Dies lässt nur eine Deutung zu: Die Planeten müssen zu der einen Zeit schneller laufen, zu einer anderen aber langsamer sein und zu wieder anderen Zeiten sogar rückwärts laufen oder kurzzeitig stillstehen. Warum? Das weiß niemand.“
Einig seien sich alle Pythagoreer jedoch in dem einen:
„Eine solche Unordnung ist unvereinbar mit der göttlichen Ordnung im Kosmos. Die Bewegung der Planeten kann nur eine gleichförmige Bewegung auf einer makellosen Kreisbahn sein.“
Augenblicklich entstand für Platon die Frage:
„Wie lassen sich bei Annahme kreisförmiger und völlig gleichförmiger Bewegungen der Gestirne die beobachtbaren Unregelmäßigkeiten erklären?“
„Lieber Platon, vielleicht gelingt es dir eines Tages, dieses Rätsel zu lösen. Von uns Pythagoreer hat noch keiner die Antwort gefunden.“
„Und wie entstehen beim Rotieren der Planeten die musikalischen Harmonien?“
„So wie ein schnell fliegender Pfeil einen Ton erzeugt, ist dies auch bei der Bewegung der Gestirne. Die Höhe der Töne setzen wir mit der Geschwindigkeit der Gestirne in Beziehung. Insgesamt erzeugt jeder Planet mit seinem Umschwung einen Ton. Alle zusammen ergeben eine Reihe von Tönen, die eine Harmonie bilden. Wir betrachten die sieben Planeten als die goldenen Saiten der himmlischen siebensaitigen Leier.“
„Archytas sag: Warum hören wir diese Harmonien nicht wie bei einer Leier?“
Zögernd, unsicher gab Archytas zu bedenken:
„Ein Grund könnte sein, dass die Menschen diese Musik von Geburt an fortwährend gehört haben und daran gewöhnt sind. Möglicherweise sind die Ohren der Menschen zu eng, um die Sphärenmusik einfangen zu können. Und schließlich sind die Planeten ja sehr weit weg.“
Damit ging ihre Unterhaltung über die Harmonien der Welt zu Ende.
Für Platon schufen die geometrischen Erkenntnisse der Pythagoreer wohl den bedeutendsten Eckpfeiler seines künftigen Denkens: Die Geometrie sei die einzig wahre Quelle des Wissens, ihr käme eine besondere Bedeutung zu.
Allein in einer mathematischen Frage blieben die Bemühungen des Archytas bei Platon völlig erfolglos: Platon fand keinerlei Zugang zur Zahlenmystik der Pythagoreer. Und da war er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht der Einzige. Für die Pythagoreer dienten Zahlen nicht nur zum Abzählen. Jede der Zahlen 1 bis 10 verkörperte für sie besondere Kräfte, die im gesamten Kosmos wirken würden. Mit dem Ableben der Sekte verschwand auch deren Zahlenmystik im Dunklen der Geschichte.
Allein die Zahlenmystik aus dem Alten Orient und aus der griechischen Mythologie beherrschte weiterhin das Denken vieler Menschen. So standen zum Beispiel die DREI für die göttliche Vollkommenheit. Daran erinnern die Drei Heiligen Könige, die drei Söhne Noahs, die drei christlichen Tugenden und die ersten drei der christlichen Gebote. Die VIER galt als Zahl für die Ordnung in der Welt – zum Beispiel mit den vier Himmelsrichtungen. Die SECHS war die Zahl des Makrokosmos. Sie verband Materielles und Geistiges. Im Alten Testament ist sie die Zahl der Schöpfungstage. Die SIEBEN bezeichnete die Vollkommenheit des Universums. Ursprung dieser Deutung ist die Anzahl der sieben in der Antike bekannten Planeten. Daher zählte man sieben Weltwunder und Theben erhielt sieben Tore. Die ZEHN entspricht der Anzahl der Finger beider Hände und wird als geistige Vollkommenheit und Weisheit gewertet. Daher gibt es in der Bibel zehn Gebote. Die ELF steht für die Maßlosigkeit, weil diese Zahl die in der ZEHN ausgedrückte Weisheit übersteige. Ob damals in England die ersten Fußballspieler diese Bedeutung der ELF übersahen? Oder doch nicht? Ahnten sie die Gehälter der Fußballspieler im Voraus?
Für Platon verrann die Zeit – Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Während seiner langen Reise tobten im griechischen Mutterland immer neue Kriege, nahmen die Schicksalsschläge für Athen kein Ende. Historiker fassten diese Kriege, die sich an den „Dreißigjährigen Krieg der Antike“ anschlossen, später zum „Korinthischen Krieg“ zusammen und datierten diesen für die Jahre 395 bis 387 v.Chr.
Heimkehr nach Athen
Platon hatte in den letzten Jahren immer häufiger an seine Heimatstadt gedacht, nahm begierig die meist wenig hoffnungsvollen Neuigkeiten von Reisenden auf. Sogleich tauchten Erinnerungen an Athen auf, kehrten immerfort dieselben bangen Fragen zurück: Wann wird die Unfähigkeit der griechischen Stadtstaaten zu einem friedlichen Nebeneinander endlich ein Ende finden?
Für sich persönlich fragte sich Platon: Welchen Platz könnte er nach einer Rückkehr in Athen einnehmen?
386 v.Chr. diktierte der Perserkönig Artaxerxes II. schließlich einen Friedensvertrag. Dieser ging als „Königsfrieden“ in die Geschichte ein. In dem Vertrag erhielt Athen die alte Unabhängigkeit zurück. Dies empfand Platon als Signal für die Heimkehr. Nach einer 12-jährigen Reise kehrte der inzwischen hochgebildete Weltenbummler nach Athen zurück.
Die Stadt hatte sich leidlich von der Katastrophe des Peloponnesischen Krieges erholt. Vieles hatte sich freilich geändert. Die Politik verzichtete auf weit ausholende Ziele, unter den Bürgern schwand denn auch das Interesse für Politik. Der Einzelne richtete sein persönliches Leben so behaglich wie möglich ein und den meisten gelang dies nicht einmal schlecht.
Platon