Wilfried Schnitzler

Wie ein Dornenbusch


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sorgen.«

      ‚Die Gartenlaube, Illustrirtes Familienblatt’, erschien bereits 1853 zum ersten Mal und war inzwischen so populär, dass es in Millionen deutschen Familien, in Bibliotheken und in Cafés eifrig gelesen wurde. Cornelius kannte natürlich den Namen, hatte aber noch nie eine in der Hand gehabt. Jakob reichte ihm den Band von 1886, indem Cornelius nun blätterte.

      »Hör dir das an, Jakob, da bietet einer ein „Handbuch über Produktion und Konsum“ an und schreibt einen Artikel über „Das wirthschaftliche Leben der Völker“. Er behauptet, in seinen vielen überseeischen Reisen genug Erfahrung zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit sämtlicher Kulturvölker gesammelt zu haben. Dieses Wissen bietet er nun als Leitfaden deutschen Kaufleuten und Industriellen an. Sie sollen damit in ihrer Entscheidung befähigt werden, in welchem Land sie die besten und fleißigsten Arbeiter für ihr Geld finden. Das ist doch ein starkes Stück. Der wagt sich meines Erachtens sehr weit vor.«

      »Mensch, Cornelius, du bist vielleicht eine Type, für was du dich alles interessierst, daran hätte ich beim Lesen dieses Artikels nie gedacht, wenn ich ihn überhaupt beachtet hätte. Sag endlich, warum gehst du nach Amerika?«

      Da war sie schon wieder, die Frage, die er sich nicht einmal selbst so recht beantworten konnte, und nun von jemand anderem hörte. Ungewollt stieg Cornelius das Blut ins Gesicht. »Geh ich gar nicht, Jakob,« quetschte er zwischen beinahe geschlossenem Mund hervor, »ich bin auf dem Weg nach Panama.«

      »Nach Panama? Wo liegt denn das? Da brat mir einer einen Maulwurf. Damit kann ich nichts anfangen. Cornelius, jetzt heraus damit, das musst du mir schon erklären.«

      »Also gut, Panama ist ziemlich weit weg von den Vereinigten Staaten von Amerika, viel weiter im Süden, da wo schon die Kokospalmen wachsen. Den Baum kenn ich zwar nicht, du aber bestimmt aus dem botanischen Garten, oder? Ich muss in New York das Schiff wechseln und entlang der Ostküste gen Süden schippern. Keine Ahnung, wie lange. Jakob, ich sag dir die Wahrheit, ich werde in Panama Priester.«

      »Was? du siehst aber gar nicht wie ein Pfaffe aus und du benimmst dich auch nicht wie einer!«

      »Wie benimmt sich denn ein Pfaffe, Jakob?« fragte Cornelius total gereizt.

      »Na ja, ich bin lutherisch, in Leipzig haben wir nicht allzu viele Katholische. Unsere Pastoren sind ziemlich liberal. Einige sind sogar Mitglied in meinem Ortsverein der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Will nicht ablenken, aber weißt du, dass die Partei in Leipzig gegründet worden ist? Meine Stadt ist schon immer eine richtige Kulturhochburg gewesen. Ach, das ist nun alles vorbei. In Amerika, habe ich gehört, haben sie für eine so wohltätige Arbeiterorganisation überhaupt nichts am Hut. Aber du hast gefragt, wie ich mir einen katholischen Pfarrer vorstelle? Bin da nicht wirklich Experte, aber habt Ihr nicht so ein Buch, Brevier nennt sich das, glaube ich? Hab dich in all den Tagen auf dem Schiff hier nicht ein einziges Mal darin lesen gesehen. Ihr tragt das doch immer mit euch herum, werft mit frommen Sprüchen nur so um euch, ob man sie nun hören will oder nicht, damit man sieht, wie fromm ihr seid.«

      Jakob hatte Cornelius mit seinen treuen Augen von unten herauf angeschaut, so, als wollte er einschätzen, ob er sich da auch wirklich nicht verhört hatte, oder sich mit seinem offenherzigen Kommentar zu viel herausnahm.

      Cornelius presste die Lippen fest zusammen und schloss die Augen für einen Moment, um nicht wütend herauszuplatzen. Was hatte er mit seiner Offenbarung auch anderes erwartet? Nun war es also heraus. Er wusste auch nicht, weshalb er das Jakob gesagt hatte. Freilich, er brauchte daraus kein Geheimnis zu machen oder sich dafür zu schämen. Aber es fuchste ihn doch, was sich die Leute so unter einem Geistlichen vorstellten.

      »Zuerst einmal, Jakob, bin ich noch gar kein Priester, ich geh ja dort hin, um die Priesterweihe zu bekommen. Und das versichere ich dir, so wie du gerade eben einen Pfaffen, wie du einen Geistlichen genannt hast, dieser Ausdruck gefällt mir übrigens überhaupt nicht, das ist für mich ein Schimpfwort, also wie du dir einen Priester vorstellst, so will ich überhaupt nicht werden. Niemals! Niemals!«

      Für einen kurzen Augenblick sah es beinahe so aus, als ob es zu einem Wortgefecht zwischen den beiden kommen könnte, aber ein Blick in Jakobs betroffenes, schuldbewusstes Gesicht mit dem offenen Lächeln um die Lippen ließ keinen Streit aufkommen. Jakob nickte nur und Cornelius ergriff über den Korridor mit einem festen Händedruck die ausgestreckte Hand. Sie vertieften sich beide wieder in ihre Lektüre.

      Das Rütteln und Stampfen des Schiffes, an das sich die beiden jungen Männer, direkt über der Maschine, während der letzten Tage allmählich gewöhnt hatten, war unverändert, und doch legte sich auf die Insassen mehr und mehr eine unmerkliche, nicht erklärbare Spannung in der fensterlosen Kabine, als wenn sie auf etwas warteten. Vielleicht spürten oder hörten sie die Unruhe auf den Oberdecks, wo die Passagiere einen Ausblick bis zum Horizont hatten. Das einzige, winzige Areal mit Tageslicht war für die Menschen im Zwischendeck draußen am Schiffsheck, nicht besonders einladend zum Verweilen im ewig kalten Wind. Und sowieso, was war da schon viel zu erwarten, außer Wasser und Wellen. Nun aber platzte die Hiobsbotschaft mit der lauten Stimme eines älteren, untersetzten Matrosen in ziemlich schmutziger Arbeitskleidung in ihr Einerlei.

      »Leute, in sechs Stunden legen wir in Hoboken am Pier 3 an. Ihr habt dann noch weitere drei Stunden um euer Gepäck im Stauraum zu holen und klar Schiff zu machen. Ihr könnt aber erst in den Stauraum, wenn wir angelegt haben. Das wird durch sechs lange Sirenentöne vom Kapitän bekannt gegeben, die ihr sogar hier unten hört. Dann ist die Reise für euch zu Ende. Wenn ihr New York sehen wollt, dann geht so in vier Stunden von jetzt nach draußen. Ihr solltet am Hafeneingang die Freiheitsstatue nicht verpassen, sie ist das neue Wahrzeichen der Stadt und eurer zukünftigen Heimat.«

      Er war ein anständiger Kerl und wünschte ihnen viel Glück für die Zukunft. Hatte er doch über die Jahre schon viele Auswanderer über den Atlantik geschleust und wusste, wie nötig sie ein wenig Fortune brauchten.

      Wie weit diese Ankündigung nun Freude, Erleichterung oder vielleicht sogar ein klein wenig bange Ahnung auf Ungewisses bei den Wartenden verursachte, war nicht ganz klar. Auf alle Fälle herrschte plötzlich ziemlicher Tumult, dabei war doch noch reichlich Zeit bis zum Aufbruch und viel zu packen hatte niemand. Sie würden demnach nicht im großen Hafen von New York an Land gehen, sondern im Hudson-Fluss weiter aufwärts einlaufen, wo Hoboken am linken Ufer lag. Viele deutsche Reedereien hatten dort, weg vom großen Trubel der ankommenden Immigranten, ihre eigene Abfertigung für ankommende und abreisende Passagiere, und vor allem viel mehr Platz zum Be- und Entladen von Frachtgut. Diese Anlandung, weg vom umtriebigen New Yorker Haupthafen nahm eine ganze Menge Hektik von den Passagieren und der Besatzung. Viele andere Reedereien beneideten die Deutschen um dieses Privileg. Hoboken hatte sich über die letzten zehn Jahre in ein Klein-Deutschland gemausert mit Fabriken, vielen Handwerksbetrieben, mehreren Faktoreien, zwei Bierhäusern und nicht zu zählenden Tavernen für Einheimische, Passagiere und Seeleute. Auch drei kleine und zwei große, luxuriöse Hotels zierten die Stadt, daneben gab es genügend einfache Quartiere für die Ankömmlinge, die sparen mussten, bis es weiter ging. Die schnelle Entwicklung und die Ordnung verdankte die Stadt denen, die sich ganz einfach hier niedergelassen hatten und nicht mehr fort wollten.

      Da Cornelius nur Handgepäck hatte, war er einer der ersten aus dem Zwischendeck, der schnell von Bord kam und sich gleich hinter den Passagieren der ersten und zweiten Klasse einreihen durfte. Bevor er sich von Jakob trennte, der seine Schwester und dann im Stauraum sein Gepäck suchen musste, hatten sie sich gegenseitig versprochen in Verbindung zu bleiben. Cornelius gab Jakob als Kontaktadresse das Sekretariat des Bischofs von Panama, bis er und seine Schwester, die er immer noch nicht gesehen hatte, eine neue Heimat gefunden hatten. Er ging fest davon aus, dass der Bischof bestimmt immer seinen Aufenthalt wissen würde.

      Nun hatte sich Cornelius erst einmal geduldig in die lange Schlange der Wartenden vor der Einwanderungsbehörde aufzustellen, wo Beamte die Personalien eines jeden handschriftlich in lange Passagierlisten eintrugen. Die Prozedur dauerte durch die ungewohnt klingenden Namen viel länger als notwendig. Dieses Verständigungsproblem war für alle der erste Vorgeschmack auf das Zukünftige in der fremden, neuen Heimat von Amerika. Auch Cornelius konnte zu diesem Zeitpunkt kaum ein Wort Englisch. Ein Glück, dass während der