Wilfried Schnitzler

Wie ein Dornenbusch


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weit genug vom Vater weg zu sein. Wenn du nicht verrätst, wo ich bin, werde ich dort fürs Erste vor ihm in Sicherheit sein.«

      Cornelius war noch immer richtig bitter auf seinen Alten und glaubte, dass er ihm seine Karriere versaut hatte. Lille hatte ihm nämlich gleich nach der Promotion mit seinem Vorzeigeabschluss eine Dozentenstelle an der philosophisch-theologischen Fakultät angeboten. Das hätte er auch angenommen, aber der Vater hatte sie ja nach Algerien abkommandiert. Es war vielleicht ein Versuch wert, sich nochmals zu bewerben. Möglicherweise waren sie an ihm noch immer interessiert. Wo sonst konnte er hin?

      Vielleicht gab es aber doch noch eine andere Alternative, die er in einer Unterhaltung der Ordensbrüder in Algerien hörte, als sie sich über den Unglauben der Indio-Bevölkerung in Süd- und Mittelamerika unterhielten, und das nach vierhundert Jahren spanisch christlicher Missionierung! Die Ordensbrüder behaupteten, dass die Bischöfe in Süd- und Mittelamerika dringend Priester zur Bewältigung ihrer prekären Lage suchen. Die spanischen Kolonien waren längst zusammengebrochen. Wie in einem Sog vollzog sich ein Wandel des wirtschaftlichen und politischen Aufbruchs. Die Kirche witterte ihre Chance, indem sie mit dem Elan junger Priester versuchte aus ihrem sozialen Abseits zu kommen.

      Als Caspar von dieser Möglichkeit im fernen Amerika hörte, leuchteten seine Augen auf.

      »Cornelius, wenn du dort hin gehst, dann lass mich das unbedingt wissen. Ich werde mich bestimmt mit meinem Studium beeilen. Das ist vielleicht ein Ansporn. Mit dir zusammen zu arbeiten, das wäre ganz nach meinem Geschmack! Denk dir bloß, mit dir gemeinsam, was könnten wir da alles bewegen! Du, mit deiner Begabung, da bin ich mir ganz sicher wirst ganz schnell Bischof, und ich immer an deiner Seite. Mensch, Bruder, da eröffnen sich auf einmal ungeahnte Aussichten!«

      Er war richtig aufgeregt, nickte ein über das andere Mal mit dem Kopf, wie zur Selbstbestätigung und meinte: »Könnte vielleicht Vater mit Absicht die gleichen Initialen für unsere Namen gewählt hatten? Ist dir schon einmal aufgefallen, dass unsere Vornamen beide mit C beginnen? C und C, Connie und Caspar, was für ein Tandem, da kann einfach nichts schief gehen!«

      Er malte mit seinen Händen ein Banner in die Luft. Seine jugendlichen Träume liefen sich geradezu heiß.

       4 Interim in Lille

      Es nahm dann alles seinen Lauf. Die beiden Brüder hatten mit ihren guten Vorsätzen verschiedene Wege eingeschlagen, blieben aber immer in Verbindung, nachdem Caspar versichert hatte, jeden Brief seines Bruders gleich zu vernichten, sobald er ihn gelesen hatte, um auf alle Fälle zu vermeiden, dass des Bruders Unterschlupf irgendwie doch bekannt werden könnte. Natürlich hatte Cornelius Sehnsucht nach der Mutter und vor allem vermisste er seine jüngste Schwester, die er über alles liebte, die er mit groß gezogen hatte, aber deren Gesundheit nicht zum Besten stand. All das bedrückte ihn sehr. Aber was half's?

      Cornelius wollte möglichst schnell alles weit hinter sich lassen. Das war ihm auch gelungen. Algerien war abgeschlossen und auch die Familie ließ ihn in Ruhe. Nach schnellem Einleben in Lille wurde ihm allerdings bewusst, dass er an eine Universität gekommen war, deren Gründungsjahr zwar noch gar nicht so lange zurück lag, deren Gründer - die Kirche und einige reiche Privatleute – die Statuten ihrer Institution in einen viel zu traditionellen und engen Rahmen gestrickt hatten. Da gab es kaum Raum für Entfaltung, alles war strengstens nach den Wünschen der Kirche reguliert.

      Er empfand keine Begeisterung an seiner Arbeit, die bestand aus viel zu viel Routine. Auch die Vorlesungen gehörten zu diesem Trott, sobald er sich in die Inhalte eingearbeitet hatte. Dabei gab es, wenn er ehrlich war, überhaupt keinen Grund sich zu beklagen. Er hatte sein eigenes kleines Schreibzimmerchen und die Universität stellte ihm sogar eine möblierte Unterkunft in einem Junggesellenheim für geringes Entgelt zur Verfügung. Eine warmes, akzeptables Essen bekam er jeden Tag in der Mensa, wo das akademische Personal in einem separaten Zimmer an schön gedeckten Tischen, getrennt von den Studenten, die Mahlzeiten serviert bekam. Dort hatte man Zeit und Gelegenheit für anregende Diskussionen. Zum Frühstück und Abendbrot versorgte er sich selbst. Nein, er sollte wirklich nicht unzufrieden sein! Aber es war sein unseliges Karma, dass sein unruhiger Geist immerzu nach Neuem suchte. Obwohl er diesen Gemütszustand ganz gut unter Kontrolle hatte, wurde er dadurch aber unbewusst ständig unter mächtige Anspannung gesetzt. Unter den augenblicklichen Umständen meinte er, seine Ungeduld sei gerechtfertigt. Dieses Universitätsmilieu lebte von den althergebrachten, akademischen Ansichten einer Pseudoelite, die keinen Wunsch nach Änderungen verspürte, noch sich bewusst war, dass solche von Zeit zu Zeit, auch in der katholischen Tradition, notwendig waren. Er fühlte sich einfach eingesperrt. Diese Unruhe und Unzufriedenheit übertrug sich natürlich auch auf seine Betätigung. Er entwickelte einen ausgesprochenen Hang zur Selbstkritik, was so weit ging, sich einzubilden, auch bei den Studenten keinen rechten Anklang mehr zu finden, obwohl bei den Kollegen, trotz seiner Jugend, seine pädagogische Begabung nicht unbeachtet blieb.

      Intuitiv ahnte er den Grund für seine depressive Stimmung. Er wollte schreiben, hatte aber keine Inspirationen, keine Motivation. Ja, das war sein Malheur. Mit der Feder in der Hand seine Gedanken zu Papier zu bringen, das bedeutete für Cornelius wahre Entspannung, Ablenkung und Hingabe. Die Poesie hatte ihn allerdings bisher nicht berührt, dafür war er zu pragmatisch. Bereits in diesen Tagen der ungewollten, aber schmerzlich empfundenen literarischen Abstinenz, wurde ihm bewusst, was ihn wirklich ausfüllte: die geistige Entfaltung auf dem Papier. Aber ohne finanzielle Eigenständigkeit war die Schriftstellerei nur ein Wunschtraum, eine brotlose Zunft. Die Armut hatte seine Kinderjahre geprägt, unter keinen Umständen wollte er dieser wieder begegnen.

      Der Rektor hatte an jeden im Kollegium das Rundschreiben des Bischofs von Panama weitergeleitet. Dieser suchte Anwärter für sein Priesterseminar mit der Offerte auf eine gute Pfarrstelle nach abgeschlossener Seminaristenausbildung. Die Universitätsleitung bat die Herren Dozenten in einem Zusatzschreiben, diese mögen zu Beginn ihrer Vorlesung die Studenten der höheren Semester darüber in Kenntnis setzen, ja, aufmunternd diese Annonce den Kommilitonen ernstlich nahelegen, sich nach Studiumsabschluss zu bewerben. Darüber hinaus sei es im Ermessen der werten Kollegen auf die besondere Attraktivität dieser Ausschreibung gebührend hinzuweisen.

      Cornelius starrte lange auf das bischöfliche Siegel im Briefkopf des Schreibens. Was er da in Händen hielt war Vorsehung, war gütiges Schicksal. Natürlich erinnerte er sich an die Unterhaltung der Ordensbrüder in Algerien und das letzte Gespräch mit Caspar vor ihrer Trennung. Er brauchte keine Studenten zu begeistern, er fühlte sich selbst angesprochen. Sein Entschluss stand sofort fest, er würde selbst darum ersuchen.

      Es dauerte nicht lange, bis eine Antwort auf seinen Brief an das bischöfliche Offizium in Panama eintraf. Man zeigte sich hocherfreut über seine Bewerbung. Die vorgelegten Zeugnisse, einschließlich der Empfehlung des Rektors, hatten überzeugt. Man wollte wissen, wie schnell er anreisen könne. Die Seereise dritter Klasse würde selbstverständlich bezahlt, alle anderen Unkosten erstattet und die Ausbildung im Priesterseminar sei kostenlos. Das Schreiben war in lateinischer Sprache, die internationale Kommunikation der Kirche. Im post Scriptum wurde noch erwähnt, dass man telegraphisch an das Sekretariat der Universität eine Summe in amerikanischer Währung zu gefälligem Wechselkurs in Vorauslage aller seiner Ausgaben ab Lille bis Panama anweisen würde, mit Abrechnung der Ausgaben bei Ankunft, versteht sich.

      Dem Brief lag ein offizielles Dokument in Englisch und Spanisch mit des Bischofs eigenhändiger Unterschrift und offiziellem Siegel bei. Es bestätigte Cornelius die Aufnahme ins Priesterseminar von Panama mit der garantierten Übernahme aller Kosten für die Anreise. Das ersparte die Hinterlegung einer Kaution bei der amerikanischen Einwanderungsbehörde, die selbst Ankömmlinge ohne längeren Aufenthalt im Land zu entrichten hatten. Zudem wäre es Cornelius ohne dieses Schreiben schwierig geworden, Europa zu verlassen und in die USA einzureisen, selbst in Transit nach Panama.

      In gehobener Stimmung machte sich Cornelius an seine Reisevorbereitungen. Zum Glück war er von Algerien nicht nach Deutschland zurückgekehrt. Dadurch war er noch immer im Besitz eines gültigen deutschen Reisepasses, dessen Neuausstellung sonst Wochen in seiner Heimatgemeinde gedauert hätte und unweigerlich zu unerträglicher Verlängerung bis zu seiner ersehnten Ausreise nach Panama geführt