Wilfried Schnitzler

Wie ein Dornenbusch


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deren Quartiere direkt über dem Gepäck- und Maschinenraum lagen. Die Gänge waren hell mit elektrischen Lampen erleuchtet, was für Cornelius ein Novum war, denn bisher kannte er nur den Gasglühstrunk als Lichtquelle. Erst einmal auf seinem Deck, war der Weg zum Junggesellenquartier gut ausgeschildert. Die Schifffahrtsgesellschaft hatte zweifellos Routine und Erfahrung. »Wenn der Rest der Reise genau so gut organisiert abläuft«, murmelt Cornelius, »wie das Einschiffen, dann werden die paar Tage schnell vorbeigehen.« Was wusste er schon!? Seine Segeltour auf dem glatten Mittelmeer war ganz bestimmt nicht zu vergleichen mit dem häufig sehr rauen Atlantik. Aber einen Ozeanreisenden, der ihn hätte warnen können, hatte er bisher noch nicht getroffen.

      Im Innern des Schiffes, mit jeder Stufe, die er tiefer hinabgestiegen war, hörte er um so deutlicher das Stampfen und spürte das Vibrieren der mächtigen Dampfmaschinen.

      Als er endlich durch einen schmalen Gang in den Raum vordrang, aus dem es in den nächsten Tagen kaum ein Entrinnen geben würde, gewahrte er vor sich eine ziemlich große, aber nicht geräumige Behausung ohne Luken, schmal und lang, mit Kojen links und rechts entlang der Wände, doppelstöckig, eine hinter der anderen. Die beiden Reihen wurden durch einen nicht allzu breiten Korridor getrennt, in dem sich schon jetzt allerlei Zeug auf dem Boden staute oder an den Seiten der Bettgestelle herunterhing, so dass ein Durchkommen mit dem eigenen Gepäck nur mit Mühe, Gefluche oder Entschuldigungen gelang. Die Passagiere aus Hamburg lagen in ihren Kojen und musterten stumm, manche sogar etwas feindselig, die Neuankömmlinge. Auf den noch leeren Betten lagen ihre Kleidung und andere Gegenstände, was man nun genötigt war, knurrend für die Zugereisten wegzuräumen.

      Die Nummer 179, das für Cornelius bestimmte Bettlager, war deutlich auf einer Blechscheibe eingestanzt und an das Holzgestell der oberen Koje aufgenagelt. Cornelius hatte schon wieder Glück. Der Abstand zwischen der unteren und der oberen Bettkante war bestimmt nicht mehr als 60 Zentimeter. Da konnte man sich kaum aufsetzen. Von seiner oberen Schlafstatt aus, in der zweiten Etage, hatte er wenigstens 80 Zentimeter bis zur Kabinendecke, wie er schnell schätzte. Er wuchtete den Seesack in seine Koje, die damit schon fast ausgefüllt war.

      »Donnerwetter,« entfuhr es ihm laut, »das ist hier aber schmal, da ist ja kaum noch Platz für mich selbst.« Er schaute in die Runde und bemerkte quer über den Gang, auf gleicher Höhe mit seiner Schlafstelle, einen jungen Mann auf seiner Matte sitzen, hemdsärmelig, breite Gummiträger hielten seine Hose mit offenem Bund. Er schlief ohne Betttuch und Decke auf der befleckten Matratze, wie Cornelius sofort etwas verwundert feststellte. Er musste instinktiv auf Deutsch geschimpft haben, denn sein Gegenüber mit den melancholischen Augen nickte nur und seufzte. Die Kojen waren tatsächlich so schmal, dass die Matratzen auf beiden Längsseiten nach oben ragten. Die Lagerstatt glich mehr einem Kanu, in das sich nun Körper mit Gepäck quetschen sollten. Noch hatte Cornelius nicht erlebt, wie nützlich die aufgetürmten Matratzenseiten bei stürmischer See werden konnten, somit der Schläfer viel schwieriger über die Bettkante rutschte. Aber diese Erfahrung hatte er sehr wahrscheinlich noch vor sich. Sein Nachbar beobachtete interessiert, wie Cornelius versuchte sein Bett zu beziehen. Sein mitgebrachtes Leintuch ließ sich einfach nicht über die Ränder spannen; es hielt nicht fest. Das sah er letztendlich ein und war bereit, es in der Mulde liegen zu lassen, obwohl ihm das in seiner leicht pedantischen Art ein wenig zuwider war. Mit der ausgebreiteten Decke und dem kleinen Kissen wurde es beinahe zu einem richtigen Bett. Seinen Seesack legte er quer über das untere Ende der Koje. Das ließ ihn zwar nicht ausgestreckt schlafen, aber er hatte mit seinen 1.73 sowieso keine überdimensionierte Größe. Der Sack ragte etwas in den Gang, was Querelen mit den Passierenden auslösen konnte. Er ließ es aber erst einmal darauf ankommen, denn so wie er sich jetzt eingerichtet hatte, versprach sein Bett doch etwas mehr Komfort. Und letztendlich musste er an diesem Platz nicht nur schlafen, sondern in den nächsten Tagen auch logieren.

      Der junge Mann gegenüber langweilte sich mächtig und wartete buchstäblich auf ein Gespräch mit dem Neuankömmling. »Isch bien Jagob Jung.« Sein Sächsisch war unüberhörbar. »Herr Nachbar, wie isch vernähme, sinn se nich fonn Vrangkreisch?« Er merkte, dass Cornelius Schwierigkeiten mit seiner Aussprache hatte und wechselt schnell in ein erträgliches Umgangsdeutsch, zu sehr war ihm offensichtlich an einer Unterhaltung gelegen.

      »Weißt du, ich komme von Leipzig und ich bin Gärtner, meine Schwester ist im hinteren Teil des Schiffes bei den unverheirateten Fräuleins und wir sind auf dem Weg nach Amerika.« Jakob hatte eine sonore Stimme, die irgendwie zufrieden, ja beinahe etwas hochnäsig klang. Cornelius war sich nicht sicher, wovon das herrühren konnte, vielleicht dass er von Leipzig kam, Gärtner war oder eine Schwester hatte, die mit ihm reiste? Wohin würden sie denn sonst wohl reisen, als nach Amerika, dafür hatten sie ja alle gebucht. Und dass Fräuleins unverheiratet waren, das war wohl auch klar. Auf jeden Fall hatte er ihn mit du angesprochen, vermutlich weil sie so etwa gleich alt waren. Jakob hatte wirre blonde Haare, wirkte nach den ersten Tagen auf See seit der Abfahrt von Hamburg ungewaschen und seine Wangen zierte bereits ein Stoppelbart.

      »Jakob, angenehm deine Bekanntschaft zu machen, du kannst mich Cornelius nennen. Du hast Recht, ich bin auch Deutscher, habe aber die letzten Monate hier in Frankreich gearbeitet.« Viel mehr wollte er in diesem Moment nicht von sich geben.

      »Dann willst du also auch nach Amerika?«

      Am liebsten hätte Cornelius geantwortet: „Ja wohin denn sonst, du Trottel, wenn sich der Kapitän nicht verirren sollte oder wir sonst wie untergehen, dann werden wir wohl alle mit diesem Schiff dort landen.“ Aber er verschluckte lieber diese bissige Bemerkung, letztendlich lagen Tage gemeinsamer Reise auf engstem Raum vor ihnen. stattdessen erwiderte er: »Wenn wir nicht untergehen oder sich der Kapitän verirrt, dann werden wir wohl gemeinsam dort ankommen.« Das war auch nicht wirklich freundlich, aber er war gerade jetzt nicht in Laune eine große Unterhaltung zu beginnen oder über sich zu erzählen, worauf sein Gegenüber offensichtlich gewartet hatte. stattdessen schwang sich Cornelius in seine, wie er sich einbildete, gemütliche Koje und vergrub sich in seine Matratzenbadewanne. Er tauchte einfach unter. Müde wie er von der Bahnfahrt war und dem frühen Aufstehen, der Anspannung und letztendlich dem Quartiernehmen, schlief er tatsächlich ein und wachte erst wieder durch das fortwährende Beben und Stampfen der Maschinen auf, das durch das ganze Schiff lief, wahrscheinlich am stärksten bei ihnen in der Enge des Zwischendecks wahrnehmbar. Er zog seine Taschenuhr aus der Westentasche, sein bestes Stück, das er schon als Zehnjähriger zur Kommunion von Großvater bekommen hatte. Damals lebte Papa noch nicht im Zank mit seinem Vater. Das entwickelte sich erst über die Jahre, je größer die Familie wurde. Laut seiner Uhr lagen drei Stunden tiefen Schlafs hinter ihm. Tageslicht gab es ja in dem Raum nicht, somit war wenigstens die Uhr ein guter Zeitmesser. Das Deckenlicht brannte immer noch und die grellen Birnen blendeten ein wenig, sobald er die Augen aufgemacht hatte. Vorsichtig über seine Matratzenkante lugend, sah er Jakob immer noch in seiner Koje sitzen. Er hatte seine Socken ausgezogen und diese fein ordentlich am Kopfende über die Bettlade gehängt. Die Kojen stießen nicht direkt aneinander, so dass ein kleiner Zwischenraum blieb, gerade Platz genug für seine Strümpfe. Jakob hatte seine Füße auf die Bettkante gestemmt und bearbeitete mit den Fingern eingehend jeden Zwischenraum seiner Zehen. Cornelius konnte seine Augen nicht von diesen Füßen wenden. So große, lange, knochige Zehen hatte er noch nie gesehen. Er schätzte, die nahmen mindestens ein Drittel von Jakobs Füßen ein. Lange Glieder, getrennt durch herausstehende Knöchel, am Ende mit langen, braunen Zehennägeln. So intensiv, wie Jakob zwischen seinen Zehen herumfummelte, mochte man meinen, er würde immer noch Gärtnererde dort finden und herausgraben.

      Cornelius krabbelte zum Fußende seines Bettes, wühlte in seinem Seesack und fand die Äpfel und das Brot, von dem er ein Stück herunter brach und sich daran machte sein Abendbrot zu essen. Er bemerkte Jakobs hungrige Augen und konnte nicht anders, als ihm einen seiner kostbaren Äpfel über den Gang hinüber zu reichen. Jakobs Hand war schneller ausgestreckt, als Cornelius den Apfel loslassen konnte. Es fielen keine Worte, aber Jakobs Blick hatte so viel zu sagen, bot Freundschaft an, viel, viel mehr als nur Dankbarkeit.

      In diesem Moment ging das Licht aus, wie zur selben Zeit auch an den nächsten Abenden auf dieser Reise. Das letzte Mal, als Cornelius auf seine Taschenuhr sah, war es neun Uhr. Pünktlich um sechs am nächsten Morgen wurde das elektrische Licht automatisch wieder angeknipst. Ohne Sonnenlicht, verriet dieser Rhythmus